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Der Wodka öffnete das Himmelstor

Wie 39 weltraumbesessene Mitglieder einer kuriosen Sekte in Kalifornien rituellen Selbstmord begingen – komplett mit violetten Tüchern, Giftrezepten und kollektivem Outing im Internet  ■ Von Andreas Rosteck

Washington (taz) – Das Startzeichen war der Komet Hale- Bopp, das Ziel ein Raumschiff der „Ebene über dem Menschlichen“, irgendwo zwischen der Erde und ihrer Welt. Als Handgepäck reichten Führerschein, Paß, ein Fünfdollarschein und eine Geburtsurkunde. Die Reise der 39 Auserwählten begann in einer Luxusvilla im Süden Kaliforniens – und endete wohl auch dort.

Polizisten fanden die Leichen von 21 Frauen und 18 Männern am Mittwoch in Rancho Santa Fé unweit von San Diego. Keine Einwirkung von Gewalt, keine Waffen seien entdeckt worden, so die Ermittler. Die Toten hätten ausgestreckt auf Doppelbetten in karg möblierten Räumen gelegen, alle in schwarzer Trainingskleidung, mit kurzgeschorenen Haaren, alle bis auf zwei bedeckt mit einem violetten Dreieckstuch über Kopf und Schultern. Die Polizei fand bei einigen Rezepte für eine Giftmischung: Phenobarbital, einzunehmen mit Pudding oder Apfelsauce, danach ein Wodka. Diese Mischung führte offenbar zum größten Massenselbstmord der US-Geschichte.

Das Massensterben war allem Anschein nach gut vorbereitet. Die Toten lagen bereits drei Tage in der Villa, einige vielleicht länger: Die letzten müssen das Gift genommen haben, nachdem sie das Haus aufgeräumt hatten. Und vorher schickten sie Erläuterungen ins Internet und Videos an mindestens zwei Stellen in Kalifornien. Darin stellte sich eine Sekte mit dem Namen Heaven's Gate vor: „Wir sind von der Ebene über dem Menschlichen im fernen All gekommen, und jetzt haben wir die Körper verlassen, die wir für unsere irdische Aufgaben trugen, um zu der Welt zurückzukehren, von der wir kamen. Aufgabe beendet.“

Auf einer Internetseite der Gruppe wird der Komet Hale- Bopp bezeichnet als „Wegweiser, auf den wir gewartet haben“. Der mutmaßliche Gründer der Sekte tritt in einem Videoband auf, das ein Geistlicher in Michigan per Kurier erhielt. Bei dem Gründer handelt es sich um den 65jährigen Marshal Herf Applewhite, einen früheren Musiklehrer, der sich unter den Toten befand. Er machte bereits in den 70er Jahren zusammen mit einer Partnerin mit einer Art New-Age-Kult von sich reden. In den neuen Texten wird das Paar dargestellt als zweites Team von „Repräsentanten“ des Königreichs „über der menschlichen Ebene“. Der erste „Repräsentant“ kam demnach vor rund 2.000 Jahren aus dem All, hieß Jesus und wurde von den Menschen umgebracht. Seine Lehre sei zu einer „Country-Club-Religion“ verwässert worden. Die Ideen von Applewhites Heaven's Gate wirken wie eine Mischung aus New Age, Science-fiction, christlichen Versatzstücken und Computertechnologie.

Computer sicherten den Sektenmitgliedern auch ihre weltliche Existenz. Für die Luxusvilla bei San Diego mußte die Gruppe im Monat 7.000 Dollar Miete zahlen. Ihr Geld verdienten die Gläubigen, indem sie Internet-Homepages für Privatkunden entwarfen. Die Firma trug den Namen „Higher Source“. Kunden und Nachbarn sagten, die Leute der Villa seien sehr höflich gewesen und auch sehr eigenartig. „Aber da wir in Kalifornien leben, sind eigenartige Typen nichts Besonderes“, so ein Nachbar.

Ganz glücklich dürften die Gruppenmitglieder mit ihrem Leben in Kalifornien nicht gewesen sein. Ihre Texte sind voller Warnungen vor dem Bösen in der Welt. Die Regierung sei in der Hand von „bösen Aliens“, alle Religionen seien dazu da, von Gott abzulenken, eine Apokalypse drohe in naher Zukunft. Und auch Forderungen nach Abkehr von der Welt und hierarchischer Ordnung, wie sie von anderen Sekten bekannt sind, fehlen nicht in den Texten. Auf einem Video sagt eine Frau aus der Gruppe zum Abschied: „Vielleicht sind wir verrückt. Aber ich habe keine Wahl, als ihnen zu folgen. Ich war 31 Jahre auf diesem Planeten, und hier bleibt nichts mehr für mich.“

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