Straßburger Happening gegen Le Pen

Eine Demonstration mit 50.000 Menschen, Konzerte, Ausstellungen, Diskussionsrunden, ein Hungerstreik – eine Stadt protestiert gegen den Parteitag der rechtsextremen Front National  ■ Aus Straßburg Dorothea Hahn

„Habt keine Angst!“ beschwört der rechtsextreme Parteichef Jean- Marie Le Pen die 2.200 Delegierten, die im schwerbewachten Kongreßzentrum von Straßburg tagen. „Habt keine Angst vor der Front National! Die Gefahr für die Demokratie geht von den anderen aus.“ Später zählt er mit tief heruntergezogenen Mundwinkeln auf, wen er meint: Die „antirassistischen Geier“, die „roten Hunde“, die „Pseudointellektuellen“, die „Gauner“, die „professionellen Menschenrechtler“. Seine Anhänger spenden tosenden Beifall und lohnen Le Pens Engagement mit 100prozentiger Zustimmung zu seiner Wiederwahl als Parteivorsitzender der Front National. Bei der Abstimmung mit Handzeichen gibt es keine Gegenstimme und keine Enthaltung.

Aber die Untermenschen haben Le Pen längst die Schau gestohlen. Stundenlang sind sie durch die elsässische Hauptstadt defiliert. Jung und alt, französisch und ausländisch, weiß und schwarz, moderat und links. Sie haben „Liebe statt Haß“ und ein „Frankreich ohne Le Pen“ propagiert. Sie haben gesungen, Gedichte gelesen, getanzt und mit weit über 50.000 Teilnehmern alles übertroffen, was Straßburg seit der Befreiung je an Demonstrationen erlebt hat. Ihre Osterbotschaften reichen von dem immer wieder nützlichen repulikanischen Slogan aus dem Spanischen Bürgerkrieg „No pasarán“ über „Er wird Lothringen und das Elsaß nicht kriegen“ und den tausendfach zu Rap- Klängen erhobenen Stinkefinger gegen Le Pen bis hin zu dem „Laßt uns einander lieben!“ auf einer anarchistischen Fahne. Auf einem Transparent prangt die optimistische Prognose „Straßburg ist das Stalingrad von Le Pen“.

Vor knapp zwei Jahren hatte jeder vierte Elsässer für Le Pen gestimmt – mehr als für den letztlich gewählten Präsidenten Jacques Chirac. Auch deswegen hatte die Front National Straßburg als Schauplatz für ihren 10. Parteikongreß auserkoren. Sie wollte in Erinnerung rufen, daß sie nicht nur im Süden Frankreichs, wo sie vier Städte regiert, stark ist.

War es eine symbolische Wiedergutmachung? „Wir wollten nicht länger die boches (Schimpfwort für Deutsche aus der Kriegszeit) von Frankreich sein“, erklärt einer von Tausenden Elsässern, die Petitionen gegen den Parteitag unterzeichnet haben. Auf der Demonstration stellen die Elsässer, von denen viele Angst vor Ausschreitungen hatten, die Hälfte der Teilnehmer. „Ich weiß nicht, warum die Rechtsextremen bei uns so stark geworden sind“, sagt eine Bürgersfrau. Es ist die erste Demonstration ihres Lebens, und sie ist froh über deren Stärke. Auch wenn sie ein Verbot der Front National besser fände.

„De Attila esch ganz baba – muess wedder furt en sin Tundra“, hat ein elsässischer Zeichner getextet. Sein Bild hängt in der Ausstellung an der Place Kleber im Zentrum der Straßburger Altstadt. Dorthin haben Bürgermeisterin Catherine Trautmann und die Veranstalter der Aktionen alle Künstler zum Protest geladen. Zwischen Patchworks und Collagen malen Besucher neue Kunstwerke. In einem Konferenzraum diskutieren Front-National-Experten pausenlos vor einem ständig wechselnden Publikum, das sich in dem Saal drängelt. Guy Konopnicki, Autor mehrerer Bücher über die Front National, erinnert an die gefährliche Banalisierung der Partei. Oppositionelle aus den von der Front National regierten Städten berichten von Buchzensur, Theaterschließungen und Subventionsstopp für Bürgerinitiativen.

Aber die Elsässer und die Demonstranten sind nicht unter sich geblieben. Schon Ende vergangener Woche tagte das „Schriftstellerparlament“ in der elsässischen Hauptstadt. Das terminliche Zusammentreffen mit dem rechtsextremen Kongreß mag Zufall gewesen sein. Aber die Schriftsteller wissen die Gelegenheit zu nutzen. „Viel Erfolg beim Kampf gegen den Faschismus“ wünscht der scheidende Präsident Salman Rushdie in der Straßburger Oper, deren Bühne mit dem bunten Plakat „Kosmopoliten aller Länder – noch eine Anstrengung“ geschmückt ist. Zusammen mit seinem Amtsnachfolger, dem nigerianischen Schriftsteller Wole Soyinka, arbeitet sich Rushdie sprachlich an Le Pen ab. „Auf Englisch heißt the pen die Feder“, sagt Rushdie. „The pen bedeutet auch ,die Enge‘“, ergänzt Soyinka. „The Pen ist stärker als Le Pen“, schließen die Schriftsteller ihre Veranstaltung am Freitag abend.

Ein paar Meter weiter diskutieren am selben Abend im Lichthof des deutsch-französischen Fernsehsenders arte Journalisten über ihre Erfahrungen mit den Rechtsextremen. Alle Diskutanten kennen deren anonyme und direkte Gewaltandrohungen, blutige Schläge, Verleumdungsklagen und Gegendarstellungen. Le Pen, das wissen alle, die ihn interviewt haben, ist mit seinen Lügen, persönlichen Beleidigungen und Beschimpfungen bei Live-Gesprächen grundsätzlich derjenige mit der größeren Klappe. Übersetzt in die „Fachsprache“ der Medien bedeutet das: „hohe Einschaltquote“ und „gute Verkaufsergebnisse“. Ist es ethisch richtig, den Rechtsextremen das Mikrofon vorzuhalten? fragen die Journalisten. Sollen wir sie mit ihren antidemokratischen Ideen vorführen, oder ist es besser, sie zu meiden, um keine Werbung für sie zu machen?

An demselben Karfreitag sind an die 60 Menschen in der protestantischen St.-Thomas-Kirche in einen dreitägigen Hungerstreik gegen die Intoleranz getreten. Am Samstag mittag bekommen sie Besuch von der sozialistischen Straßburger Bürgermeisterin Catherine Trautmann, die – wenige Stunden vor der großen Demonstration – den Kontakt zu allen Gegnern der Front National sucht. Trautmann, die einzige Frau an der Spitze einer französischen Großstadt, berichtet von „Hausbesuchen“, die Front- National-Mitglieder bei Straßburgern machen, die Anzeigen wegen krimineller Akte erstattet haben. „Bevor die gehen, sagen sie den Leuten: Wählt uns beim nächsten Mal“, erzählt Trautmann. Sie weiß auch von Nachbarschaftsabenden in umliegenden Dörfern, bei denen sich die Teilnehmer rund um den Polizeifunk versammeln und stundenlang schweigend zuhören: „Am Ende stellt sich zwangsläufig ein Gefühl von Unsicherheit ein.“

„Cathy la Rouge“ – die rote Cathy – hat Le Pen die Straßburger Bürgermeisterin getauft. Stunden bevor die Demonstration überhaupt begonnen hat, wollen die Rechtsextremen schon wissen, daß „Schläger“ auf der Anreise seien und daß es „Ausschreitungen“ geben werde. Die eigene Gefolgschaft fordert die Führung der Front National auf, das einige Kilometer vom Stadtzentrum entfernte Kongreßzentrum nicht zu verlassen. „Cathy la Rouge ist für alles, was passiert, verantwortlich“, sagt Le Pen.

Die Bürgermeisterin hat sich mit ihrer Opposition gegen den rechtsextremen Parteitag jede Menge Freunde und Feinde gemacht. In der ganzen Stadt hat sie Plakatwände mit dem Slogan „Liberté, Egalité, Fraternité“ bekleben lassen, sie hat Freilichtkonzerte, Ausstellungen, Dichterlesungen und die Demonstration mitorganisiert.

Als die Demonstration beginnt, gerät Bürgermeisterin Trautmann, zusammen mit dem gesamten vertretenen linken politischen Establishment, in Bedrängnis. Der sozialistische Parteichef Jospin, der verspätet, aber immerhin kommt, wird mit Buhrufen empfangen. Die Grünenchefin Voynet, Kommunistenchef Hue und Trotzkistenchef Krevin, die sich an die Spitze der Demonstration stellen wollen, werden von einer großen und entschlossenen Menschenmenge ins Abseits gedrängt.

Am Ende ziehen zwei Demonstrationen hintereinander durch die Stadt: die Unabhängigen, die sich von allen Parteien verlassen fühlen, und die anderen. Ein Transparent macht gleichzeitig die ehemalige sozialistische Premierministerin Cresson, den gegenwärtigen konservativen Innenminister Debré und Le Pen für den Rassismus verantwortlich. Der rote Winkel aber, den die Anti-Front-National-Gruppe „Ras l Front“ in zig- tausendfacher Auflage als Sticker gedruck hat, prangt allerorten.

Straßburg trägt Trauerflor. Über Nacht haben Antirassisten fast sämtliche Straßenschilder mit einem schwarzen Klebstreifen versehen. Aber die größte, bunteste und pluralistischste Demonstration der Stadtgeschichte sorgt für Euphorie. Die meisten Menschen, die in totaler Unordnung zwischen den engen Fachwerkhäusern demonstrieren, sind jung, viele nicht einmal 20 Jahre alt. Zahlreiche Studenten- und Schülergruppen haben Busse gechartert. „Le Pen, du hast verloren, die Jungend ist auf der Straße“, skandieren sie. Und kündigen an, daß sie am Ersten Mai wieder demonstrieren wollen, wenn die Rechtsextremen in Paris ihre traditionelle Veranstaltung zu Ehren der Nationalheiligen Jeanne d'Arc abhalten.

Auch aus dem benachbarten Deutschland sind ein paar hundert Teilnehmer gekommen. Gewerkschafter aus dem Schwarzwald, die ihre DGB-Fahne mitgebracht haben, sind beliebte Objekte der französischen Kameraleute. „Ich bin gegen alle Rechtsextremen“, sagt der DGB-Ortskartellvorsitzende von Lahr, wann immer er gefragt wird.

Die Demonstration endet, wie sie begonnen hat: im totalen Chaos. Die Place Broglie brodelt vor Menschen im Freudentaumel. Stunden später zerschlagen ein paar Vermummte mehrere Geschäfte in der Innenstadt und verbrennen ein Auto. Die Polizei nimmt 35 fest – darunter mehrere deutsche Antifaschisten. Französische Le-Pen-Gegner hatten zuvor vergeblich versucht, sie von der Randale abzuhalten.

Im Kongreßzentrum ist die Stimmung am Morgen danach weniger triumphalistisch als bei der Eröffung des Parteitags. Doch von der Demonstration spricht niemand. Statt dessen ist von der Randale die Rede. Eine Delegierte an einem Elsaß-Stand will wissen, daß die „Schläger“ in Wirklichkeit Immigranten in Frankreich waren, und daß „die Medien daraus Deutsche gemacht“ haben. Ein Parteiführer spricht am Mikrofon von „deutschen internationalen Sozialisten, Söhnen von deutschen Nationalsozialisten, die wegen Schengen von keinem französischen Grenzer gestoppt werden können“.

Vor dem Kongreßzentrum tauscht eine Gruppe von Front- National-Mitgliedern persönliche Eindrücke aus: „Das war das Ausländerpack“, sagt einer über die nächtliche Randale. „Die Trautmann kann sich jetzt umbringen“, ergänzt ein anderer. „Oder aufspießen“, ergänzt ein anderer in Anspielung auf die Grabschändungen auf jüdischen Friedhöfen.

Auf der anderen Seite bedauert Trautmann die Zwischenfälle. Doch alle feiern den großen Erfolg auf der Straße. Gestern, am letzten Tag des Front-National-Kongresses, war Straßburg eine „tote Stadt“ – aus Protest gegen die Rechtsextremen fand keine einzige öffentliche Veranstaltung statt.