: „Hat der Onkel dich ausgezogen?“
■ RechtspsychologInnen an der Bremer Uni untersuchen, inwieweit die Aussagen von ZeugInnen schon bei der Vernehmung suggestiv beeinflußt werden
enn ein Kind sagt: „Dann hat mir der Onkel mit seinem Pimann die Zähne geputzt“, dann ist dieser Satz nach Ansicht von Michael Stadler äußerst glaubhaft. „Kinder beschreiben sexuelle Handlungen in einer Weise, die zeigt, daß sie nicht verstehen, was geschah.“Der Bremer Psychologe spricht viel mit Minderjährigen, die in Sexualdelikt-Verfahren als ZeugInnen vor Gericht aussagen müssen. Wenn dort nämlich Aussage gegen Aussage steht, wird Stadler als Sachverständiger angefragt, der die Glaubwürdigkeit der Kinder und Jugendlichen zu begutachten hat. „In der Regel folgen die Gerichte dann unserer Beurteilung. Wir liegen zu beinahe hundert Prozent richtig.“
Ein hoher Anspruch. Michael Stadler leitet das Lehrgebiet „Rechtspsychologie“an der Bremer Uni. Das Fachgebiet ist auf Forschungsebene eines der ältesten in der Psychologie, das Lehrgebiet dagegen das jüngste – er wurde vor anderthalb Jahren als Modellprojekt in Bremen gestartet und trat damit als viertes Anwendungsfach gleichberechtigt neben die Klinische Psychologie, Arbeits- und Organisationspsychologie und die Pädagogische Psychologie. Rechtspsychologie hält ihren Fokus auf das „menschliche Erleben und Verhalten innerhalb des Rechtssystems“. Dazu gehören Vollzugs- und Kriminalpsychologie – die Gerichts- oder auch Forensische Psychologie hat sich als eine Teildisziplin im deutschsprachigen Raum bereits etabliert.
„Plötzlich wurden immer mehr Sachverständige gebraucht, und niemand war einschlägig ausgebildet“, sagt Stadler. 2.000 bis 3.000 Mark werden pro Gutachten ausgegeben: Für Sorgerechtsvorschläge in Scheidungsfällen. Die Reifebeurteilung von jungen Erwachsenen zwischen 18 und 21 Jahren. Die Begutachtung alter, geistig behinderter oder verwirrter Menschen im Sinne des neuen Betreuungsgesetzes. Das sind die Hauptarbeitsbereiche der GerichtspsychologInnen. Neben Stadlers Schwerpunkt: Die Glaubwürdigkeit von ZeugInnenaussagen.
„Wir müssen überprüfen, welchen suggestiven Einflüssen Zeugen unterliegen“, sagt der Experimentalpsychologe. Seine Arbeitsmethode ist analog: Im Verlauf von zwei Monaten rekonstruiert er immer wieder mit den ZeugInnen die Straftat, achtet auf sich ändernde Äußerungen, Beschreibungen. Dann werden die sprachlichen Merkmale analysiert: Sind sie glaubhaft oder womöglich sugge-stiv beeinflußt? Wie entwickelt sich der Kern der Aussage?
Leider verfügt Stadler dabei nicht über die wörtlichen Vernehmungsprotokolle der Kripo. „Obwohl sie ganz wichtig wären.“Denn dort sitze die erste und entscheidende Fehlerquelle für eine „verfälschte“Wiedergabe des Erlebten. Vor allem Kinder dürften zum Beispiel nie mit geschlossenen Fragen konfrontiert werden, auf die sie nur mit Ja oder Nein antworten können. Bei Sexualdelikten ist deshalb eine Frage wie „Hat der Onkel dich ausgezogen?“absolut tabu. Besser: Was ist dann geschehen?
„Ein Kind wird bei einer geschlossenen Frage immer mit Ja antworten, weil es dann eine freundliche Reaktion erwarten kann.“Daß Polizeibeamten aber nun bewußt suggerieren, will Stadler gar nicht unterstellen. „Wir suggerieren doch permanent, um Verständnis zu erwecken. Wir erklären die Dinge vorab. Das ist eine ganz normale Kommunikationstechnik.“Man müsse sich schon dazu zwingen, nicht zu suggerieren. Und darauf warten, was ZeugInnen tatsächlich zu sagen haben.
Rund 140 PolizistInnen aus Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein ließen sich letzten Herbst dahingehend einen Tag lang fortbilden. „Fehler beim Vernehmen von Zeugen und Tatopfern“fungierte als Satellitentagung zum vorausgegangenen ersten Bremer Rechtspsychologie-Kongreß Ende '95. Die Umsetzung auf den Revieren jedoch haben die WissenschaftlerInnen nicht weiter verfolgt. Sie beschränken sich darauf, ihre „Informationen weit zu streuen“, wie Stadler sagt. Er als Psychologe habe es mit seiner Arbeit ja etwas leichter, weil er nicht ermitteln muß. Hier hält er sich raus, um seine Unabhängigkeit als Gutachter zu wahren – auch das strafrechtliche Ergebnis sei nicht seine Sache, sondern die des Gerichts.
Daß die Bremer Sachverständigen mit ihren Zeugen-Gutachten tatsächlich „zu beinahe hundert Prozent“richtig liegen – „nun, das hat auch damit zu tun, daß die Angeklagten in letzter Zeit deutlich häufiger ein Geständnis ablegen.“
Silvia Plahl
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen