: Keine Auszahlung der Police bei Holocaust
In den USA haben neun Personen eine Klage gegen Europas größte Versicherungen eingereicht ■ Aus New York Andreas Rostek
Samuel Hersly sitzt in der großen New Yorker Anwaltskanzlei, hält seinen altmodischen Hut auf den Knien und gibt knappe Antworten. Nur einmal ereifert sich der alte Mann: „Das ist wie Straßenraub. Ich will wissen, was die Versicherungen mit dem Geld gemacht haben, das jahrelang von all den Menschen eingezahlt wurde, die dann umgekommen sind!“
Als sein Vater eine Versicherung abschloß, hieß Samuel Hersly noch Samuel Herszlikiewicz und lebte in Krakau. 1935 unterzeichnete Moisze Jozef Herszlikiewicz den Vertrag mit der italienischen Versicherungsgesellschaft Assicurazioni Generali in Warschau. Wert: 10.000 Gold-Zloty, damals etwa 2.000 US-Dollar. „Mein Vater sagte mir, das Geld sei für meine Universitätsausbildung. Aber ich konnte nicht zur Universität gehen. Ich mußte anderswohin.“ In den knappen Angaben Herslys sieht dieser Weg so aus: 1943 Auschwitz. 1944 Groß-Rosen und Flossenbürg. „Am 23. 4. 1945 wurden wir von der 19. Division der 3. US-Armee befreit.“ 17 Mitglieder der Familie Herszlikiewicz wurden von den Nazis ermordet.
Samuel Hersly gehört zu neun Personen, die eine Gemeinschaftsklage gegen sieben europäische Versicherungsgesellschaften eingereicht haben. Schon 1952 hatte Hersly, damals bereits US-Bürger, einen Versuch gemacht, an das Geld aus der Police zu kommen, für die sein Vater jahrelang Beiträge gezahlt hatte. Alle Dokumente der Familie waren verlorengegangen. Aber Hersly erinnerte sich an den Namen des Versicherers, fand in New York eine Zweigstelle von Generali und hatte – ein bißchen – Glück: Ihm wurde die Nummer der Police mitgeteilt. Die Originalpolice bekam der Erbe jedoch nicht, sein Geld auch nicht.
Die Generali-Zentrale in Triest machte schon damals geltend, was sie auch heute nach Bekanntwerden der Klage wiederholt: Alle ihre Niederlassungen in Osteuropa seien nach dem Krieg verstaatlicht worden. Damit seien die Verpflichtungen aus den Versicherungsverträgen auf die entsprechenden Regierungen übergegangen. „Ich mußte feststellen, daß ich allein gar nichts machen konnte“, sagt Samuel Hersly. Jetzt hat Hersly Hilfe bekommen – auf dem Umweg über die Schweiz.
Die weltweite Publizität, die die Affäre um die Konten von Nazi- Opfern bei Schweizer Banken erfahren hat, brachte auch die Klage gegen Versicherungsgesellschaften auf den Weg. Das sieht auch Herslys Anwältin Linda Gerstel so: „Der Fall der Schweizer Banken hat neue Möglichkeiten eröffnet. Jetzt werden Details bekannt, von denen viele Leute glaubten, sie seien längst vergessen.“ Gerstel ist eine der Juristinnen der New Yorker Anwaltskanzlei Anderson, Kill & Olick, die die Gemeinschaftsklage aufgesetzt haben. Die Firma ist auf Versicherungsfälle spezialisiert und kann ein vielleicht gigantisches Geschäft erwarten. Bereits jetzt ist der Streitwert mit einer Milliarde Dollar angegeben. Die Klageschrift listet sieben der größten europäischen Versicherer auf: außer Generali die deutsche Allianz sowie die Bayerische Allgemeine Versicherungs AG, aus Österreich „Der Anker“ sowie die Wiener Allianz-Versicherungs AG, aus Frankreich Assurances Générales de France Vie und aus Italien Riunione Adriatica di Sicurtà.
Nach den Erfahrungen in der Bankenaffäre rechnen die Anwälte damit, daß die Gruppenklage mehr als 10.000 Betroffene umfassen wird. Für jeden der Betroffenen setzen sie einen durchschnittlichen Schaden von 75.000 US-Dollar an. „Diese Schätzung basiert auf dem Wert der Policen seinerzeit, umgerechnet auf den heutigen Dollarkurs“, so Anwältin Gerstel.
Nur wenige der ersten Kläger haben die Versicherungen vor der Verfolgung selbst abgeschlossen, die meisten sind Kinder oder Erben von Opfern des Naziregimes. So auch Morris (Moses) Weinman aus einem kleinen Ort in Polen zwischen Krakau und Lemberg. Sein Vater hatte eine Versicherung mit der österreichischen Gesellschaft Der Anker abgeschlossen, zahlbar bei Volljährigkeit von Morris Weinman und seiner Schwester. Die Familie wurde von den Nazis vertrieben und interniert, verlor alles, überlebte aber und wanderte in die USA und nach Kanada aus. „Das Geld aus dieser Versicherung hätte 1942 ausgezahlt werden müssen – jetzt ist 1997, und ich habe nie etwas davon gesehen“, sagt Morris Weinman, der jetzt in New York lebt. „Warum mache ich mir die Mühe mit der Klage? Da ist erst einmal mein Vater, er lebt nicht mehr. Er hat sein gutes Geld, das er mit harter Arbeit verdient hat, in diese Versicherung gesteckt, weil er an uns Kinder dachte. Aber es geht auch um mich, ich hatte viel Pech, und das ist Geld, das mir gehört – ich fordere ja nichts, was anderen gehört. Wir haben ein Recht, dieses Geld zurückzubekommen.“
Das sah die Anker-Versicherung anders, als Weinmans Vater 1955 einen ersten Versuch machte. „Wir bedauern, Ihnen erwidern zu müssen“, beginnt das Antwortschreiben der Wiener Gesellschaft: Bereits in den 30er Jahren sei die Firma gezwungen worden, die seinerzeit abgeschlossenen Verträge an eine polnische Anstalt abzutreten. „Über das Schicksal der übertragenen Versicherungen ist uns leider nichts bekannt. Ansprüche können jedenfalls nur noch bei der polnischen Anstalt gestellt werden.“ Die war damals längst verstaatlicht und antwortete auf eine Anfrage, ohne Policenummer sei nichts zu machen. Diese Nummer aber stand auf einem Zettel, der steckte in Weinmans Jacke, die Jacke ging verloren, als die Familie von Nazischergen bei ihrer Vertreibung gezwungen wurde, sich auszuziehen...
In der vergangenen Woche wollte die österreichische Anker nichts zu dem Fall sagen. Europas größter Versicherer, die deutsche Allianz-Gruppe, will prüfen, ob die Gruppenklage „berechtigte Ansprüche“ enthalte. Allianz-Sprecher Worthley sagte, in ähnlichen Fällen habe man bereits in der Vergangenheit Versicherungssummen gezahlt, ohne daß es zu einem Rechtsstreit gekommen sei. Wegen des moralischen Aspekts wolle man auch jetzt „keine juristische Sache daraus machen“. Allianz-Chef Schulte- Noelle hat des öfteren gesagt, sein Konzern übernehme die Verantwortung für die gesamte Unternehmensgeschichte, auch die der Jahre 1933 bis 1945. Es gebe aber Lücken in den Firmenakten, die man nun – möglicherweise auch mit Hilfe von Historikern – zu schließen versuche.
„Wir sehen jetzt, wie die Versicherungen anfangen, Entschuldigungen und Erklärungen anzubieten“, sagt Anwältin Gerstel. „Aber ein Versicherungsvertrag ist ein privater Vertrag zwischen einem einzelnen und der Firma, und der Versicherer hat kein Recht, diesen Vertrag etwa an Dritte zu übergeben. Das ist auch nur eines der vielen Verteidigungsargumente, die jetzt vorgetragen werden.“ Die Anwälte werfen den Versicherern vor, sie hätten die Verträge mit ihren Kunden gebrochen und ihre treuhänderischen Pflichten mißachtet. Sie werfen ihnen vor, sich auf Kosten der Nazi-Opfer selbst bereichert zu haben und zudem das Regime und einzelne Naziverbrecher finanziert zu haben – und sie werfen den Firmen vor, auch in der Folge „in böser Absicht“ die Zusammenarbeit mit den Opfern verweigert zu haben.
Nun hätten die europäischen Versicherungsgesellschaften Gelegenheit, ihren guten Willen unter Beweis zu stellen: Die Klageschrift enthält dazu eine ganze Reihe von Punkten, „die über die Fragen hinausgehen, die die einzelnen Mitglieder der Klägergruppe betreffen“. So wird gefragt, ob die Versicherer „routinemäßig“ Zahlungen an Verfolgte des Naziregimes verweigerten und ebenso routinemäßig Guthaben von Opfern an die Regierungen etwa in Deutschland, Österreich und Italien weitergeben. Antworten würden wohl auch die drängendste Frage von Samuel Hersly beantworten: „Ich will wissen, was sie mit dem Geld gemacht haben von all den Menschen, die gestorben sind.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen