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Wellen, Brahms und Primzahlen

■ In Heidelberg fand „Gegenwelten“, das 11. Festival für Neue Musik, statt

Vom Proporz der aufgeführten Komponisten zu den Komponistinnen her ist es vergleichbar mit Donaueschingen. Nur ist das Geschlechterverhältnis genau umgekehrt: Beim Heidelberger Festival für Neue Musik werden überwiegend Werke von Komponistinnen gespielt. Mit dem Publikumszuspruch verhält es sich dagegen eher wie beim Damenfußball. Obwohl die „Disziplin“ Neue Musik ein internationales Auditorium findet, lockt die Konzertreihe „Gegenwelten“ nur wenige Musikinteressierte nach Heidelberg.

Dabei setzt dieses Festival musikgeschichtliche Akzente, indem es zahlreichen, international mittlerweile anerkannten Komponistinnen ein Forum bietet, die nicht schon tot und kanonisiert sind. Sofia Gubaidulina etwa, Younghi Pagh-Paan oder Adriana Hölszky, die jüngst als Kompositionsprofessorin an die Musikhochschule Rostock berufen wurde.

Tonsetzerinnen bestimmen die musikalische Avantgarde heute ebenso mit wie ihre Kollegen. Den diesjährigen Heidelberger Künstlerinnenpreis erhielt Babette Koblenz, die bald neben Wolfgang Rihm in Karlsruhe Komposition unterrichten wird – sofern das baden-württembergische Kultusministerium die seit langem vakante Stelle freigibt.

Verschachtelung als Markenzeichen

Babette Koblenz freute sich besonders darüber, daß sie das elfte Exemplar der Heidelberger Auszeichnung empfangen durfte, denn sie kreiert mit Vorliebe Musik in primzahligen Rhythmen. In ihrem Auftragswerk „Can't open a document“ präsentiert sie genau dieses „Markenzeichen“ von komplizierten, übereinandergelagerten Rhythmen, die nicht zu Unrecht an die spätmittelalterliche Ars subtilior erinnern. Koblenz bezieht die alte europäische Musiktradition in ihre Arbeit ebenso ein wie südamerikanische Musik und Elemente des Jazz. Ausschlaggebend ist für sie immer die lebhafte Metrik, die das Publikum für den Rhythmus sensibilisiert.

Dies gelingt in „Can't open a document“ sehr überzeugend. Das kammermusikalische Werk beginnt mit gepreßten, kaum schwingenden Streichereinwürfen, blüht zu immer intensiverem Klang und beinahe rockigem Drive auf. Koblenz bezieht sich in diesem Stück auch auf Johannes Brahms, indem sie eine Passage aus dessen „Intermezzo“ für Klavier, op. 119/2 (Gunhild Cramer-Reimold, Klavier) zitiert, das Zitat aber – gemäß ihrer Kompositionstheorie – nicht umgestaltet, sondern es unverändert stehenläßt.

In ihrem zweiten aufgeführten Werk „Radar“ (Fassung für Violine und Klavier, das ambitionierte Heidelberger Festivalensemble in wechselnden Besetzungen) gelang die Versinnlichung des Unsinnlichen: Das nervöse Zittern von Elektrowellen wurde förmlich hörbar. Dem Stil von Koblenz am nächsten kommt vielleicht „Thinking of Brahms“ von Elzbieta Sikora, nur eine der zahlreichen Uraufführungen des Festivals. Die Polin schafft es ebenfalls, rhythmische Spielereien von großem Tempo mit beeindruckendem Volumen zu verbinden.

Inspiration aus der Romantikerstadt

Eher zart und zurückgenommen dagegen wirkte „Sol-Stitium“ von Annette Schlünz im Eröffnungskonzert (Leitung und Orgel Peter Schumann). Die beiden Fassungen dieses Werks loten in Nuancen die Klangwirkung ein und desselben musikalischen Materials bei vollkommen unterschiedlichen Instrumentierungen aus. Ein ebenfalls ganz ruhiges Stück („Passacaglia über Heidelberg“) war von dem Brasilianer Juan Maria Solare zu hören.

Heidelberg natürlich – da mag ein fixes Bild die Inspiration gelenkt haben, wenn es nicht bloße Reverenz an den Aufführungsort war. Die Hommage an „Heidelberg“ der russischen Komponistin Olga Magidenko verarbeitet ein Hölderlin-Gedicht über die sogenannte Romantikerstadt zu einem Dialog zwischen (Sprech-)Stimme (Festivalleiterin Roswitha Sperber) und Flöte (Antje Langkafel) und läuft dabei von zaghaften Ebenen zu hoher Dramatik auf.

Weiterer Schwerpunkt: Der hunderste Todestag von Brahms, der mal einen Sommer (1875) in Heidelberg verbracht hat. Über Bahms' Zeitgenossenschaft ging der Blick aber auch zurück auf die Situation von Künstlerinnen im 19. Jahrhundert, beispielsweise in einer kenntnisreichen Matinee über Brahms und das Ehepaar Joachim. Am Ende der „Gegenwelten“ stand jedenfalls fest, was eigentlich nicht mehr des Beweises bedürfen sollte: Anders als Brahms in seinem berühten Ausspruch argwöhnte, gibt es große Komponistinnen, schon bevor Männer Kinder gebären können. Christina Zech

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