: Flucht nach vorn
■ Auch ein Versuch der Wiedergutmachungsausstellung. Gestern eröffnete das Pariser Musee d'Orsay einen Ausstellungsreigen mit "Beutekunst" in Frankreich
In 120 französischen Museen ereignet sich derzeit eine wahrlich ungewöhnliche Kunstschau von bisher nicht gekannter Dimension. Nach Kriegsende waren zahlreiche Werke von Degas, Manet, Monet, Pissaro, Rodin und Hunderte von Werken weniger bekannter Künstler, die auf dunklen Wegen in die Hände der Nazis gekommen waren, den staatlichen französischen Museen übergeben worden. Ihr offizieller Auftrag lautete: „provisorisch“ aufbewahren, bis die Besitzer oder ihre rechtmäßigen Erben auftauchen.
Gestern eröffnete das Pariser Impressionistenmuseum d'Orsay den Ausstellungsreigen. Bis zum 4.Mai zeigt es die 71 Gemälde und 54 Zeichnungen aus seinen Beständen, die den Stempel „MNR“ – „Musées nationaux Récuperation“ – tragen, mit denen alle Kunstwerke gekennzeichnet wurden, die die Alliierten bei der Befreiung nach Frankreich zurückbrachten. Heute eröffnen auch der Louvre (678 MNR-Stücke), das Centre Pompidou (38 MNR- Stücke), das Musée national de Céramique in Sêvres (131 MNR- Stücke), das Musée national du chÛteau de Versailles (10 MNR-Stücke) sowie zahlreiche Provinzmuseen ihre Ausstellungen.
Ein Drittel der Kunstwerke sind ihren jüdischen Eigentümern zwischen 1940 und 1944 in Frankreich geraubt worden. Sie kamen zuerst in das Museum Jeu de paume, in dem sich die deutschen Besatzer, allen voran der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, ausstatteten. Abgesehen von „entarteten“ Kunstwerken, die teilweise direkt vernichtet wurden, klaubten die Nazis im Jeu de paume Stücke für deutsche Privathäuser, Behörden und Sammlungen zusammen – unter anderem auch für das von Hitler geplante Museum in Linz.
Der andere Teil wurde auf dem freien Markt verkauft. Im Gefolge der Franc-Entwertung hatten deutsche Kunsthändler – oft mit klaren Aufträgen von Nazi-Größen – die Preise in die Höhe getrieben und dafür gesorgt, daß der Pariser Kunstmarkt während der Besatzung boomte.
70.000 Juden aus Frankreich wurden zwischen 1940 und 1944 deportiert. Nur 2.000 von ihnen überlebten die Konzentrationslager. Wer zurückkam, hatte zunächst andere Sorgen, als sich um den Verbleib seiner Kunstwerke zu kümmern. Und die meisten Erben hatten keine Ahnung von dem Besitz, der ihnen zustand. Viele, die später Rückerstattungsanträge an Frankreich stellten, scheiterten im Behördendschungel.
Mit seiner Ausstellungsinitiative tritt Frankreichs Kulturminister die Flucht nach vorn an. Während monatelanger kontroverser Diskussionen über die MNR- Kunstwerke war die Französische Republik in den Verdacht geraten, wie die Schweiz späte Nutznießerin antisemitischer Verbrechen zu sein. Der staatliche Rechnungshof erhob den Vorwurf, die Museen hätten die rechtmäßigen Eigentümer der Kunstwerke nicht gesucht. Vor der Presse erklärte Douste- Blazy: „Wir haben nichts zu verbergen.“ Tatsächlich befänden sich in den MNR-Beständen neben echten Meisterwerken auch zahlreiche „zweitrangige Werke“ sowie eine Fälschung von Cézannes „Sainte Victoire“, die das Orsay- Museum vom Markt fernhalten wolle.
Zugleich möchte Douste-Blazy beweisen, daß er weiterhin nach den rechtmäßigen Eigentümern der MNR-Werke fahndet – auch wenn er diese Suche erklärtermaßen nicht für vielversprechend hält. Für die Mehrheit der MNR- Werke, deren rechtlicher Status völlig unklar ist, setzt der Kulturminister auf eine politische Lösung: Ermuntert von Jacques Chirac, der 1995 als erster Staatspräsident eine französische Mitverantwortung für die antisemitischen Verbrechen eingestand, hat die Pariser Regierung am Jahresanfang eine Kommission eingesetzt, die sämtliche Beraubungen von Juden in Frankreich untersuchen soll. Langfristig soll sie auch vorschlagen, was mit den nie zurückgegebenen Beutestücken, die vom Bettuch über Schraubstöcke bis zu kompletten Wohnhäusern reichen, geschehen soll.
Nachdem die Existenz der MNR-Kunstwerke in der französischen Öffentlichkeit bekanntgeworden war, hatte das Kulturministerium im vergangenen November ein Kolloquium zu dem Thema organisiert. Gleichzeitig richtete es eine Internet-Adresse ein, unter der Interessenten die Liste einsehen können. Über 18.000 Anfragen registrierte diese Adresse bis dato – doch keine führte zu berechtigten Wiedergutmachungsansprüchen. Passend zu den Ausstellungseröffnungen allerdings kündigte das Kulturministerium die bevorstehende Rückgabe von drei MNR- Kunstwerken an – ein Frauenporträt von Pablo Picasso, eine kubistische Landschaft von Albert Gleizes und ein Frauenakt von Tsugouhara Foujita.
Die Ausstellungsidee entstand erst vor vier Wochen. In Windeseile haben seither die staatlichen Museen ein Verzeichnis erstellt, in dem 300 MNR-Werke detailliert beschrieben sind. Das 400 Seiten starke Verzeichnis ist die erste Fassung eines kompletten Katalogs der rund 2.000 MNR-Werke, der im nächsten Jahr veröffentlicht werden soll. Eine derartige schriftliche Übersicht ist seit Kriegsende überfällig.
Damals waren den französischen Behörden 61.000 Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen, die die Nazis nach Deutschland gebracht hatten, zurückgegeben worden. 43.441 davon fanden den Weg zu ihren rechtmäßigen Eigentümern, die übrigen wurden von 1950 bis 1954 im Schloß von Compiègne im Norden von Paris ausgestellt. Nachdem während dieser Suchausstellung nur 30 Rückgabeanträge gestellt wurden, versteigerten die Behörden 15.000 „weniger wichtige“ Werke und verteilten den Rest „provisorisch“ auf Museen im ganzen Land.
Jahrzehnte später, im Jahr 1989, stieß der Journalist Hector Feliciano, Autor der Washington Post in Paris, zufällig auf ihre Spur. Seine Recherche über den Verbleib der MNR-Werke scheiterte immer wieder am Widerstand der Kulturbehörden und Museen. Mühsam tastete er sich über Interviews mit Zeitzeugen und verhinderten Erben voran. Erst 1995 konnte er sein Buch – Titel: „Das verschwundene Museum“ – veröffentlichen, das die Affäre mit ins Rollen brachte. Heute freut sich Feliciano über die neuen Aktivitäten des Kulturministers. Zugleich wagt er die ketzerische Frage: „Wird er die aktive Suche nach den Erben fortsetzen? Oder dauert das noch mal 50 Jahre?“
Dorothea Hahn
Hector Feliciano: „Le musée disparu“. eds. Austral, Paris 1996. Erscheint im Mai in erweiterter Fassung bei Harper Collins in den USA: „Lost Museum“
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