: Frau hört Eishockey
■ Waltraud Krauß ist Anhängerin von DEL-Finalist Adler Mannheim – und blind
Mannheim (taz) – Waltraud Krauß weiß nicht, welch feierliches Bild es ist, wenn sich zwei Mannschaften gegenüberstehen in einer Reihe im Scheinwerferlicht, kurz bevor das Spiel beginnt. Sie hat noch nie gesehen, wie das Tornetz flattert, wenn der Puck mit all seiner Wucht hinter dem Torhüter einschlägt. Die zierliche Frau weiß nur in der Theorie, was ein Zwei-Linien-Paß ist, und wenn drunten auf dem Eis einer zu Boden gestreckt wird, erfährt sie en detail erst dann, was geschehen ist, wenn der Stadionsprecher die Strafe verkündet – und warum es dazu gekommen ist.
Waltraud Krauß (35) liebt Eishockey, auch wenn sie all das nicht sehen kann, weil sie sich, von Geburt an sehbehindert, als siebenjähriges Mädchen beim Spielen einen spitzen Gegenstand in die Augen stieß. „Ich kam zu spät ins Krankenhaus – weil Sonntag war“, sagt sie. Am Montag war ihr Augenlicht nicht mehr zu retten.
Wie erwähnt, Krauß liebt Eishockey. Und sie liebt die Mannheimer Adler. Deren Fan ist sie seit nunmehr neun Jahren, und deren Heimspiele besucht sie, wann immer es geht. Block A, Reihe 23, Sitz 19, das ist ihr Stammplatz. Dort sitzt sie, behütet von ihren Nachbarn, und nimmt das Meer an Geräuschen auf, das während eines Spiels durch den Luisenpark brandet: die Wogen der Begeisterung und die Wellen der Enttäuschung.
Man muß nur einmal selbst die Augen schließen, um zu erahnen, was Krauß erlebt. Dann sitzt man inmitten eines eigenen Kosmos aus Lärm und Klang. Fast schwindelig wird einem davon, weil auf diesem Rummelplatz der Geräusche von überallher etwas auf einen zufliegt, so daß man schon bald die Orientierung verliert.
Genau das ist es, was Krauß am Eishockey liebt. Daß das Leben um sie herum pulsiert – bunt und wild. „Diese Atmosphäre“, sagt sie, „kann ich sonst nirgendwo erleben.“ Sie mag die Lautstärke der Musik, sie kennt all die Gesänge der Fans, die ihr schon lange vor Spielbeginn die Zeit vertreiben und bei denen sie so begeistert mitsingt und -klatscht.
Lieder wie das, nach dem nur der Mannheimer ERC deutscher Meister werden kann, oder jenes, in dem aus den Huskies aus Kassel Dosenfutter gemacht wird, können nun wahr werden. Nach dem 5:2 in Kassel vom Dienstag führen die Adler 2:0 im Meisterschaftsfinale (Best of Five). Es ist gut möglich, daß Krauß morgen abend ihre erste Meisterschaft feiern kann. Die letzte liegt 17 Jahre zurück, das war vor ihrer Zeit.
Wie eine für Sehende verschlüsselte Botschaft nimmt Krauß all die Geräusche in der Halle auf und setzt sie zusammen zu ihrem eigenen Eishockeyspiel. Sie weiß die vielen „Ahs“ und „Ohs“ zu deuten, die durchs Eisoval ziehen, und dechiffriert sie wie einen geheimen Code. Sie erspürt, wenn es brenzlig wird für die Adler, weil das Gegröle um sie herum plötzlich nervös zu flimmern scheint. Dann steigt auch bei Waltraud Krauß der Adrenalinspiegel – aus Sorge, ihrem MERC könnte Schlimmes widerfahren. Und er senkt sich erst wieder, wenn der Fanblock links von ihr seine „Mike Rosati“-Sprechchöre anstimmt. Das ist dann für sie das Zeichen der Entwarnung, weil sie nun weiß, daß der Torhüter der Adler die Gefahr wieder einmal gebannt hat. Sie spürt, wenn die Mannheimer am Drücker sind. Dann will das Klatschen nicht mehr aufhören. Bis ein enttäuschtes „Oh“ folgt – oder der erlösende Torjubel.
Natürlich kommt es manchmal auch vor, daß Waltraud Krauß sich verhört. Daß sie sich über etwas freut, was gar nicht passiert ist, und ihr erst die netten Leute, die um sie herumsitzen, erklären müssen, was da gerade los war auf dem Eis. „Das ist mir immer ein bißchen peinlich“, sagt sie. Dafür gibt es keinen Grund, was jeder weiß, der einmal dabei war beim Eishockey und versucht hat, auf dem laufenden zu bleiben. Schon gar nicht für eine Frau, die blind ist. Frank Ketterer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen