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Breitseite für Sprachpessimisten

■ Mit einer Salve lyrischen Adrenalins verteidigt der diesjährige Chamisso-Preisträger José F.A. Oliver das Wort und dessen Zunft

taz: Sind die Lyriker von heute poetische Patenkinder der Dichter von gestern?

José Oliver: Immer! Es gibt keine Dichtung ohne Vergangenheit. Ich stehe in einem ständigen Dialog mit Dichtern, die vor mir geschrieben haben.

Wie geht's denn Chamisso?

Dadurch, daß ich einen Preis bekommen habe, der seinen Namen trägt, habe ich mich intensiv mit Chamisso auseinandergesetzt. Ich habe mich gefragt, wie es wäre, ihn zu treffen.

Und wie wäre das Treffen im lyrischen Raum?

Wenn ich mit Chamisso an einem Tisch sitzen könnte, würden wir uns darüber unterhalten, wie es für ihn ist, als Franzose in Deutschland zu leben. Und ich würde ihm zeigen, wie es in meiner mehrlandigen Seele aussieht.

Der Lyriker Oliver spricht oft davon, daß er dreisprachig aufgewachsen ist. Deutsch, alemannisch und spanisch.

Ohne das Alemannische würde mir der unmittelbare Zugang zur deutschen Sprache fehlen. So wäre Deutsch für mich immer eine Sprache auf Distanz und...

...was ist Deutsch so für Sie?

Eine unerschöpfliche Quelle. Es gibt im Deutschen Worte, die zusammengesetzt sind und dadurch Geschichten erzählen.

Lassen Sie mal eins raus.

Das Wort wunderbar. Es ist „offenrätslig“, weil barfüßig, das Geheimnisvolle in die Welt tragend.

Die germanische Grundbedeutung von Dichten bedeutet ordnen, herrichten. Die romanische Wort- Wurzel liegt eher bei Wortkunst ...

... dann nehme ich sehr romanisch wahr und werde immer germanischer im Schreibprozeß.

Unsere Welt ist zunehmender damit beschäftigt, zu ordnen, zu rationalisieren. Letztendlich fehlt beim Gedicht diese Klarheit ...

Sobald ich ein Gedicht begreife, kann es mir auch wieder aus den Händen gleiten. Und das ist gut so.

In welcher Zeit ist oder war die Sprache der Poeten am stärksten?

Immer da, wo die Sinnsuche am intensivsten war. Auch im Augenblick leben wir in einer Zeit, in der nach der Sinnhaftigkeit des Lebens gefahndet wird. Die ganze postindustrielle Phase ist reine Suche.

Welche Chance hat denn heute Sprache, die sich nicht nach dem ersten Biß schlucken läßt? Die Menschen wollen doch Antworten und nicht noch mehr Fragen!

Dichten ist ständiges Befragen und Antworten. Der primäre Zugang zum Gedicht sollte das Hören sein. Darüber sollte man dann zum Nachlesen gelangen. Deshalb überlege ich mir meine Programme genau. Ich inszeniere meine Lyrik auf der Bühne.

Also ein Plädoyer für das Zuhören?

Ja. Denn man sagt ja nie, ich fühle mich dir „zugeäugt“, aber ich fühle mich dir zugehörig. Also muß das doch ein wesentlicher Bestandteil von uns sein. Thomas Hoeth

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