Phänomen als Phantom

Der südafrikanische Marathon-Olympiasieger Josia Thugwane und sein schwieriges Leben als Sportstar  ■ Aus London Ronald Reng

Wieder hat Josia Thugwane 42 Kilometer und eine Ewigkeit zwischen sein altes und sein neues Leben gelegt. Seine Beine wackeln von den Anstrengungen des London-Marathons, als er vom Ziel in Richtung Umkleidekabine geht. Betreuer stützen ihn. Jemand applaudiert, Thugwane lächelt müde und zufrieden zugleich. Das normale Ende eines Marathons; für Josia Thugwane (25) der Anfang von Normalität.

Bis Sonntag war Thugwane mehr Phantom als Phänomen. In einem taktischen Rennen gewann der Südafrikaner bei den Olympischen Spielen in Atlanta die Goldmedaille. Er ließ 26 Läufer hinter sich, die eine bessere Spitzenzeit hatten. Doch so plötzlich wie er auftauchte, schien er auch wieder aus der Weltklasse verschwunden zu sein.

Bei seinem nächsten Marathonstart, im letzten Herbst im japanischen Fukuoka, gab er nach 28 Kilometern auf. Als sein Betreuer Jacques Malan auch noch ankündigte, Thugwane werde bei der Weltmeisterschaft in Athen im August dieses Jahres nicht starten, „weil er dort mehr verlieren als gewinnen kann“, schien sich zu bestätigen, daß Thugwane bei den Olympischen Spielen ein großes Rennen gemacht hat, aber nie ein großer Renner werden würde. Am Sonntag in London widerlegte er die These. Thugwane wurde Dritter, und mit 2:08,06 Stunden lieferte er den persönlichen Rekord nach, der sich für einen Olympiasieger schickt.

Wenn er nun, nach zweimonatigem Trainingslager in den USA, nach Südafrika zurückkehrt, steht ihm ein anderer marathonlanger Kampf bevor, um das normale Leben eines Sportstars, das für ihn gerade anfängt, weiterzuführen. Er werde „fünf Stunden am Tag trainieren“, sagt Thugwane und meint: Englisch lernen. Seine Sponsoren – die den ersten schwarzen Olympiasieger des ehemaligen Apartheidlandes weniger als Person denn als Symbol fördern – haben ihm die Sprachschulung sanft aufgedrängt. Die Verträge, die er mit Limonadenproduzenten oder Schuhherstellern unterschrieb, hat Thugwane nicht durchgelesen. Er ist Analphabet. Noch vor einem Jahr wußte er nicht, wo London liegt. Er lebte im Township von Bethal in einer Blechhütte ohne Strom und Wasser und dachte, „so ist das Leben“. Mit zwei Jahren hatten ihn seine Eltern verlassen, ein Onkel zog ihn groß. Thugwane arbeitete auf einer Farm, hütete Kühe oder erntete Kartoffeln; für zwei Pennies am Tag. Das Laufen hat seinen Lebenslauf verändert.

Er wohnt nun in einem gehobeneren Viertel in Middelburg, wie Bethal gut anderthalb Stunden von Johannesburg entfernt. In diesen Tagen will er dort Sicherheitskameras installieren lassen. Das Gold von Atlanta hat ihn nicht nur für Verehrer zum Objekt der Begierde gemacht, sondern auch für Kriminelle. Thugwane hat Morddrohungen von Erpressern bekommen; gefährlicher jedoch, denkt sein Betreuer Malan, sei die alltägliche Gewalt, „der du genauso ausgeliefert wärst, wenn du in Südafrika leben würdest“.

Schon vor den Olympischen Spielen wurde Thugwane in seinem Auto von Kidnappern überfallen, ein Pistolenschuß streifte sein Gesicht. Eine Narbe am Kinn erinnert daran. Im Januar dieses Jahres wurde der 1,58 Meter kleine und 44 Kilogramm leichte Läufer von einem Rowdy aus dem Auto gezogen und krankenhausreif geprügelt.

„Ich muß mit diesem Problem leben“, sagt Thugwane, „wenn sie mich töten, dann töten sie mich, Ende des Problems.“ Thugwane ist mit dunkler Sonnenbrille zum Interview in den fensterlosen, nur dezent beleuchteten Konferenzraum des Londoner Tower Hotels gekommen. „Das ist mein Markenzeichen“, sagt er mit Stolz. Er spricht leise, aber mit der schüchternen Begeisterung eines Mannes, der gerade eine neue Welt entdeckt. Er weiß jetzt, wo London liegt, was Olympische Spiele bedeuten. Er hat seine Unbedarftheit verloren – und damit vielleicht seine größte Stärke.

In Atlanta, sagt Malan, der für ihn übersetzt, sei Thugwane gelaufen, als ob es irgendein Rennen in Südafrika sei. „Er wußte doch überhaupt nicht, welche Bedeutung Olympia hat.“

Vor der Siegerehrung habe Thugwane mit den Funktionären, die die Medaillen überreichten, in den Stadienkatakomben auf die Zeremonie gewartet. Als sie rausgehen wollten, erinnert sich Malan, sagte Thugwane: „Ich muß aufs Klo.“ Entsetzt habe ein Funktionär geantwortet: „Du kannst doch jetzt nicht aufs Klo, da draußen warten 50.000 im Stadion und Millionen vor den Fernsehern in der ganzen Welt auf dich.“ Thugwane ging trotzdem.