: Wenn der Zeitgeist umgeht
■ Uhrenhersteller, Hirnforscher und Künstler bei „Zeit-Sprünge“, ein zeitgeistiges Symposium im Literaturhaus
Vielleicht ist das Thema Zeit deshalb so beständig interessant, weil die Vorstellungen über Zeit so vergänglich sind. Während man in der traditionellen Gesellschaft Zeit an die Präsenz der Dinge und organisch-natürliche Zyklen koppelte, ahnte der Zeitzeuge Shakespeare bereits 1599: „Time travels in diverse paces“.
Mit zunehmender gesellschaftlicher Entwicklungsgeschwindigkeit traten Vergangenheit (Erfahrung) und Zukunft (Erwartung) immer stärker auseinander. Newton definierte die Welt als lückenlos-linearen Zusammenhang von Kausalität, und Kontingenz konnte der Zukunft zugeschrieben werden. Götter und Dämonen hatten ihre Funktion verloren, dafür begann das Leiden an der Ungewißheit der Zukunft. Die Newtonsche Vorstellung einer absoluten Zeit wurde schließlich von Einstein einer ordentlichen Relativierung unterzogen.
Und heute? Wie steht es in der Jetzt-Zeit um die Zeit, welche Form nimmt sie an in einer „vernetzten“und „hyperrealisierten“, also quasi-zeitlosen Welt? Der Beantwortung dieser Frage hat das Literaturhaus eine Menge Zeit eingeräumt, ganze drei Tage, an welchen ab heute das Symposion „Zeit-Sprünge“stattfindet. Und weil Zeit bekanntlich auch Geld ist, wird das ganze passenderweise vom Uhrenhersteller gesponsert.
Dafür konnte eine erlesene vierzehnköpfige Schar wissenschaftlicher Referenten aus den Bereichen Literatur, Philosophie, Medien und - im Literaturhaus immer gern gesehen - Hirnforschung geladen werden, die sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit begeben will. So lassen zumindest die zeitgeistigen Referatstitel vermuten, etwa „Die Splitter des Zeitpfeils“(Norbert Bolz). „Die lautlose Explosion“(Wolfgang Kaempfer) oder „Risse im Gefüge der Zeit“(Christoph Tholen).
Gleichzeitig stellen sieben Künstler ihre Bilder und Objekte zum Thema Zeit aus, um „die theoretische Dimension des Symposions auf der visuellen Ebene zu erweitern“. Ebensolches soll auch auf literarischer Ebene erfolgen, in Form einer Poesie- und Prosa-Lesung, die Barbara Nüsse und Ulrich Wildgruber am Donnerstag (20 Uhr) halten.
Zeitinteressierte Zeitgenossen dürfen einiges erwarten. Wenngleich die Ergebnisse des Symposions noch in der Zukunft liegen, dürfte als gemeinsamer Nenner doch eines schon jetzt feststehen: Die Zeitlosigkeit des Themas Zeit.
Christian Schuldt
bis Fr, 25. April, tgl. 10-18 Uhr (20/10DM); ab 20 Uhr (10/5DM), Literaturhaus, Schwanenwik 38
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