: „Euro nur in der Achse Bonn–Paris möglich“
■ Der 58jährige Arbeitssoziologe Henri Vacquin erwartet von den Neuwahlen Kontinuität in der Europapolitik und warnt Chirac, den Ruf nach einem sozialen Europa zu unterschätzen
taz: Sie beraten Unternehmer und Gewerkschafter. Wie sind deren Reaktionen auf die Parlamentsauflösung?
Henri Vacquin: Die Unternehmensleitungen sehen das positiv. Sie vermuten, daß der Reformprozeß beschleunigt wird, daß es mehr Sparprogramme, mehr Dereglementierung, mehr Flexibilität geben wird. Die Gewerkschaften befürchten neben der Beschneidung des Streikrechts im öffentlichen Dienst das Ansteigen der Sozialabgaben, die Schwächung der Sozialversicherung und – das vor allem – die Flexibilisierungen im Arbeitsrecht, das jetzt noch als letzte Barriere vor einer sehr, sehr weitgehenden Deregulierung gilt. Ich finde, es gibt heute genügend Flexibilität, die müßte nur intelligent genutzt werden – von Arbeitgebern und Gewerkschaften.
Steht jetzt das Ende der Debatte über Arbeitszeitverkürzung bevor?
Chirac ist da sehr ambivalent. Er sagt gleichzeitig, daß er die Reformen fortsetzen und daß er Garant für die soziale Versorgung sein will. Das „Robien-Gesetz“, das Unternehmen finanziell unterstützt, die die Arbeitszeit zugunsten von Neueinstellungen verringern, wird von den Liberalen attackiert, aber es steht für das Denken des Zentrums der konservativen Mehrheit. Mit diesem Zentrum wird Chirac versuchen, eine knappe Mehrheit zu kriegen. Er verlöre auch die Unterstützung der Gewerkschaft CFDT, wenn er morgen die Arbeitszeitverkürzung ablehnen würde. Dann hätte er plötzlich alle Gewerkschaften gemeinsam gegen sich.
Welche Rolle spielt der Euro bei den vorgezogenen Neuwahlen?
Der Übergang zum Euro gilt als schwieriger symbolischer Moment. Deswegen wollte der Präsident nicht gleichzeitig wählen lassen. Aber es gibt auch andere Gründe für die Parlamentsauflösung, wichtige juristische Affären zum Beispiel, die jetzt anstehen. Chirac zieht vor, daß die nach den Wahlen verhandelt werden.
Sehen Sie Parallelen zwischen der französischen und der deutschen Situation?
Der Euro erscheint nur in der Achse Bonn–Paris als möglich. Da gibt es viele Ähnlichkeiten. Nehmen Sie die Entscheidung von Renault, die Fabrik im belgischen Vilvoorde zu schließen. Das war ein wichtiges soziales und gesellschaftliches Phänomen, weil bei den Reaktionen weniger die Ablehnung Europas, sondern der Ruf nach einem sozialen Europa entscheidend war. Als Kohl den Bergarbeitern nachgegeben und ihre Subventionen erhöht hat, tat er das gegenüber einem Symbol. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland gibt es diese Strömungen, die nicht den Wandel selbst ablehnen, sondern die Flucht nach vorn, ohne daß die Richtung klar ist.
Wie würde eine neue konservative Regierung auf die sozialen Bewegungen wirken, die seit Beginn der Amtszeit Chirac sehr präsent sind – von den Eisenbahnern über die Lkw-Fahrer bis hin zu den Filmemachern?
Es gibt eine sehr starke latente Wut in Frankreich. Die richtet sich gegen die Regierung, hat aber zugleich viel Distanz gegenüber sozialistischer Partei und Linken.
Wäre der Euro am Ende, wenn die Opposition gewinnt?
Es wird Kontinuität geben. Die drei Prozent Staatsdefizit als Konvergenzkriterium zum Beispiel hat die PS unterzeichnet. Die Reaktion des sozialistischen Parteichefs Jospin auf Chiracs Rede war sehr europäisch, er hat bloß zusätzlich noch vom sozialen Europa gesprochen. Wenn die Linke eine Mehrheit bekäme, wäre die PS verpflichtet, eine Öffnung zum Zentrum zu machen. Interview: Dorothea Hahn
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