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Wegsehgesellschaft?

■ Bürgerschaft zur S-Bahn-Vergewaltigung

Fast jeden Tag wird in Hamburg ein Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren vergewaltigt. Warum also, fragte sich die CDU-Politikerin Karen Koop gestern in der Aktuellen Stunde der Bürgerschaft, erregte die kürzlich bekannt gewordene Vergewaltigung einer 17jährigen derart große Aufregung? Weil sie am helllichten Tage in einer S-Bahn passierte? Eine Vergewaltigung würde „nicht besser, wenn sie im Dunkeln stattfindet“, so Koop. Die Bahn solle für Sicherheit und modernere Züge, der Staat für mehr Polizei und schärfere Gesetze sorgen.

Daß niemand eingriff, obwohl die S-Bahn keineswegs leer war, darüber empörten sich insbesondere die männlichen Parlamentarier. Statt-Sprecher Achim Reichert verstieg sich gar zu der Vermutung, daß Bürgermeister Henning Voscherau (SPD), „so wie ich ihn kenne“, am liebsten „selber in der S-Bahn gesessen und eingegriffen“hätte. Dennoch: „Zivilcourage können wir zwar fordern, aber nicht verordnen“, erinnerte der GALier und Kritische Polizist Manfred Mahr.

„Sprachlos“sei sie, hielt Gundi Hauptmüller (GAL) dem männlichen Redeschwall entgegen. Es gehe nicht um das „psychische Defizit eines einzelnen Mannes“. Solange Gewalt zum „männlichen Verhaltensrepertoire“gehöre, werde sich wenig ändern. Was nütze die Empörung, so Hauptmüller, wenn die Realität so aussehe: Eine vergewaltigte Frau findet in Hamburg in der Regel keine qualifizierten Ansprechpartnerinnen bei Polizei und Staatsanwaltschaft, kann nicht zu ihrem Vertrauensarzt gehen, muß wieder und wieder die Tat schildern. Oft vergehen eineinhalb Jahre bis zum Prozeß, einen psychologischen Beistand für sie gibt es nicht. Und ist der Täter endlich verurteilt, erfährt das Opfer selten, wann er entlassen wird.

Hauptmüllers Redebeitrag erhielt Beifall aus allen Fraktionen.

Silke Mertins

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