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Kurt Scheels LichtspieleAuf Augenhöhe

■ Warum man mit freudiger Erwartung in die Zukunft schauen kann, wenn man noch keine Ozu-Filme kennt

Im April war Donald Richie im Münchner Filmmuseum, ein liebenswürdiger älterer Herr, der zweifellos einmal in den Himmel kommen wird. Nicht nur, weil er so witzig, selbstironisch und gebildet ist, sondern weil er sich um die Menschheit verdient gemacht hat. Als amerikanischer Besatzungssoldat begann er sich mit dem japanischen Film zu beschäftigen, woraus eine Reihe von Büchern entstand, Klassiker mittlerweile, darunter die über zwei der bedeutendsten Regisseure überhaupt: Akira Kurosawa und Yasujiro Ozu.

Für Kurosawa muß man keine Reklame mehr machen. Seine Filme sind nicht nur in Cannes aufgeführt worden, sogar Hollywood hat ihnen seine Reverenz erwiesen („Die glorreichen Sieben“), und „Yojimbo“ war das Vorbild für Leones „Für eine Handvoll Dollar“.

Auch Ozu ist berühmt, aber nie so recht aus dem Dunstkreis der Cineasten hinausgekommen. Seine Filme sind kaum im Kino oder im Fernsehen zu sehen, und selbst bessere Videotheken führen sie nur selten. Das ist äußert bedauerlich, aber grämen Sie sich nicht zu sehr, wenn Sie Ozu noch nicht kennen: Es steht Ihnen somit eine wunderbare Erfahrung bevor.

Eigentlich ist es egal, was Sie sich ansehen. Ozu, so sagt man, habe immer denselben Film gedreht, mit denselben Schauspielern und derselben Erzähltechnik. Das ist ein bißchen übertrieben, aber es stimmt, daß er oft dieselbe Geschichte erzählt (von einigen seiner Filme hat er ein oder sogar zwei Remakes gemacht!): Es geht um eine Familie, die Kinder verlassen das Haus und heiraten, Vater oder Mutter bleiben alleine zurück.

Die gängige Interpretation, Ozu zeige den Verfall der japanischen Familie, ist zumindest ungenau: Nur wenn die Kinder ihre Eltern verlassen und eine eigene Familie gründen, kann die Familie weiterleben – also nicht Verfall der Familie, sondern notwendige Auflösung. Traurig bleibt das allemal: Wenn Chishu Ryu am Ende von „Tokyo Monogatari“ (1953) alleine in seinem leeren Haus sitzt – „die Tage werden jetzt zu lang werden“ –, dann fließen sanft die Tränen. Aber es ist nicht eigentlich Schmerz, den man empfindet, es ist ein Gefühl von Trauer und von Trost über den unausweichlichen Gang des Lebens, über die Vergänglichkeit.

Oder „Akibiyori“ („Spätherbst“, 1960): Die Tochter will ihre Mutter nicht alleine lassen und daher nicht heiraten. Erst als die Mutter, gespielt von der wunderbaren Setsuko Hara, so tut, als wolle sie sich selbst wieder vermählen, geht ihre Tochter. Eine ähnliche Geschichte erzählen „Samma no Aji“ („Herbstnachmittag“, 1962) und „Banshun“ („Später Frühling“, 1949), und wenn ich jetzt noch „Ukigusa“ („Abschied in der Dämmerung“, 1959) und „Der Herbst der Familie Kohayagawa“ (1961) nenne, ist die Liste meiner Lieblingsfilme fast komplett.

Schön und grün, sagen Sie nun, aber daß Ozu immer dieselbe Geschichte erzählt, die offenbar kaum Handlung hat, von Spannung ganz zu schweigen, ist das ja auch nicht unbedingt abendfüllend. Sie haben natürlich recht (der Leser, so ist jedenfalls meine Devise, hat immer recht). Aber bedenken Sie bitte, daß diese Ozu-Liebeserklärung von „Cineastenschreck“ Scheel kommt: also einem filmkunstmäßig verdächtigen Zeugen.

Wie gelingt es Ozu, seinen Bildern eines unspektakulären Lebens diese Eindringlichkeit, diese Schönheit zu verleihen? Indem er sie als Bilder eines unwiederbringlichen Vergehens inszeniert: „Es ist alles präsent und doch wie schon entschwunden und erinnert“ (Siegried Kohlhammer). Ozus Filme, sagt Richie, „bringen die Zeit der Uhr zum Verschwinden“. Aber wie?

Durch äußerste Vereinfachung, durch seine berühmte restriktive Erzähltechnik, die sich so vieler Möglichkeiten der Kamera entschlägt: keine subjektive Perspektive, keine Zooms, wenig Schwenks und Kamerafahrten, lange Einstellungen einer starr postierten Kamera in der für westliche Augen merkwürdigen Höhe von einem knappen Meter: der Augenhöhe eines in traditioneller Weise auf dem Boden sitzenden Japaners.

Diese Begrenzung des Gesichtsfeldes, diese Beschränkung der filmischen Mittel führt zu einer Konzentration auf weniges, aufs Wesentliche: Eingerahmt von japanischen Schiebetüren sitzt die Familie auf den Reisstrohmatten, im Hintergrund ist ein kleiner Ausschnitt des Gartens zu sehen – eine Bildkomposition wie bei einem Gemälde, von räumlicher Tiefe und einer Ruhe, die all unsere Hektik und Nervosität zum Verschwinden bringt, wenn wir uns denn darauf einlassen.

Klingt geheimnistuerisch, fast schon esoterisch? Ozus Filme haben in der Tat etwas Meditatives, aber sie sind ganz von dieser Welt. Sie prätendieren nicht, hinter die Menschen und Dinge zu schauen; sie zeigen das alltägliche Leben, wie wir es nur selten gesehen haben: in seinem Glanz und seiner Würde, in seiner Wirklichkeit. Ozus Kamera liebt, was sie sieht. Sie will nichts beweisen, nur aufmerksam betrachten, höflich und ein bißchen ironisch blickt sie auf unser tägliches Gemurkse – ach, wenn die eigenen Augen doch auch so auf die Welt schauen könnten!

Donald Richie kann es, wie er in seinem Vortrag über Ozu und seiner Einführung zu eigenen Filmen bewies: „Wundern Sie sich nicht über die vielen Säulen in meinem ersten Film. Sie bedeuten wohl so etwas wie Kunst. Aber bedenken Sie, wie jung ich damals war!“ Erheben wir unsere Sakebecher zu einem dreifach donnernden „Kampai!“ auf Donald Riche, auf Yasujiro Ozu. Kurt Scheel

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