Tanz ums Goldene NHL-Kalb

Heute beginnt in Finnland die Eishockey-Weltmeisterschaft – wie immer ohne die besten Spieler, die noch in den NHL-Play-offs beschäftigt sind  ■ Aus New York Albert Hefele

Jedes Jahr dasselbe. Immer wenn die europäischen Eishockeynationen so tun, als würden sie den Weltmeister ermitteln, schwänzen die Allerbesten das Turnier. Und liegen auf der faulen Haut? Ganz im Gegenteil, während die Europameisterschaft – um überseeische Verlierer erweitert – stattfindet, wartet harte Arbeit auf der anderen Seite des Atlantik. Die Play- offs um den Pokal der nordamerikanischen Klubmannschaften – den ebenso klobigen wie begehrten Stanley-Cup. Die unbestritten wichtigste Trophäe der Champions in diesem Sport.

Soll das heißen, Europäer können nicht Eishockey spielen? Nie was von Charlamow, Tretjak gehört? Nedomansky? Den großartigen Schweden, den Finnen? Ist der Tanz ums Goldene NHL-Kalb wirklich gerechtfertigt, oder handelt es sich bloß um hochnäsigen Anachronismus? Von wegen „Wiege des Spieles, und was kümmern uns die Europäer“.

Die Amerikaner sind große Freunde von Sportstatistiken. Vermutlich dem Wunsche entspringend, die doch ziemlich relative Qualität sportlichen Tuns in eine überprüfbare Form zu gießen. Darum gibt es Statistiken über fast alles, was irgendwie meßbar ist. Goaltending Leaders, Shutout Leaders, Coaching Register, All- Time-Penalty-Minute Leaders. Mehr oder weniger interessant, mehr oder weniger aussagekräftig, einige geben doch zu denken.

Zum Beispiel die Statistik der 100 besten Punktemacher; der momentan aktiven Spieler wohlgemerkt. Unter den ersten 50 sind zwei Europäer: die beiden Finnen Jari Kurri und Tomas Sandström. In der Statistik der Top 100 All- Time Point Leaders tauchen noch zwei weitere Europäer auf: Peter Stastny und Borje Salming. Das sind vier Prozent. Obwohl die Crème des kontinentalen Hockey in die NHL drängt und nichts lieber täte, als den Nordamerikanern zu beweisen, daß sie es genauso gut kann. Woran liegt es, daß sich so wenige durchsetzen und noch weniger auf lange Sicht eine dominierende Rolle spielen?

Für Saku Koivu, nun die zweite Saison bei den Montreal Canadiens, ist es vor allem eine Frage der Physis: „Die Zweikampfhärte in der NHL ist, gerade in den Play- offs, beeindruckend.“ Das heißt nicht, daß hinterlistige oder brutale Fouls das Spiel bestimmen würden. Dazu sind die Akteure viel zu professionell, zu schnell und zu athletisch. Es dreht sich vielmehr alles um die alte Machofrage: Wer ist der härtere Mann? Schon in den 30er Jahren vom legendären Manager des Maple Leaf Garden, Conn Smythe, auf den Punkt gebracht: „If you can't beat'em in the alley, you can't beat'em on the ice!“ Ist NHL-Hockey sportlich verbrämter Straßenkampf? Natürlich nicht.

Aber selbstmörderische Bodychecks und absolut kindisch anmutende Imponierschlägereien, aus denen sich die Großen des Spieles wohlweislich heraushalten, spielen eine wichtige Rolle. Sich nicht den Schneid abkaufen lassen, den 20.000 Zuschauern in der Arena zeigen, wie mutig man ist.

Blöde oder nicht, viele Männer – Frauen übrigens auch – haben Spaß an solchen Ritualen. Und: Eishockey ist nicht Synchronschwimmen. Außerdem ist die Fähigkeit, gut mit Gehirnerschütterungen fertig zu werden, auch in der NHL nicht alles. Viel eher fallen die unglaubliche Technik und die damit einhergehende geringe Fehlerquote selbst durchschnittlicher Spieler auf. Nicht etwa Technik als solche und lediglich zum Zwecke eitler Selbstdarstellung, da haben europäische Spieler mindestens ebenso viel zu bieten. Die Qualität besteht darin, diese Technik unter extrem hohem physischem und psychischem Druck parat zu haben und in verwertbare Aktionen umzusetzen.

Denn Druck gibt es mehr als genug. Zum einen bedingt durch das gnadenlose Zweikampfverhalten, zum anderen durch die schmalere Eisfläche. Bedeutet grundsätzlich weniger Platz, zwingt zu geradlinigem, schnellem Spiel und dazu, die sich bietenden Chancen entschlossen auszunutzen: „Go to the net.“ Der von den kombinationsverliebten Europäern lange Zeit geringgeschätzte „kanadische Stil“. Dabei haben die Kritiker etwas übersehen. Eine Reduzierung der vorhandenen Mittel auf das Wesentliche hat nichts mit Unfähigkeit zu tun. Jede Sekunde, in der der Puck nicht unterwegs ist, bedeutet Zeit. Für den Gegner. Im nordamerikanischen Hockey kriegt man für unnötige Kringel auf dem Eis keine Sympathiepunkte; Scorerpunkte schon gar nicht. Und die zählen nun mal.