: Vorbild des Vaters?
■ Kleine Prärieträume vor dem Reichstag: Überlegungen zur Familie in Gegenwart von Johnny Cash, Sweetheart und Sohn
Das Zelt steht an der gleichen Stelle, aber an anderem Platz: Hundert Meter hinter dem Berliner Tempodrom schlagen die Bagger ihre Zähne in den Schlamm. Hier wird die U-Bahn zum Lehrter Bahnhof gebaut. Wo immer Platz für alle war, ist jetzt Sackgasse und Parkplatznot. So höre ich die ersten Takte von Johnny Cash, als ich am Reichstagsgerippe vorbeigehe, bei Regen.
Während der trabende Beat aus der Ferne laut schien, wirkt er drinnen wohltemperiert. Die gutturale Stimme ist makellos eingepaßt in den instrumentalen Sound, der mit wenig Aufwand variiert wird: vom Piano zum Synthesizer, vom akustischen Bass zum elektrischen, und vor allem auch wieder zurück.
Rechts von mir, dachte ich in der Menge, hätte ich ME gesehen; aber da fiel mir ein, daß er vor einem Jahr oder so gestorben ist – und gehen Schwule überhaupt zu Johnny Cash? Links von mir steht jedenfalls MK. Viele sind hier Mitte, Ende Dreißig, so wie er und ich, und älter. Im Haus seiner Eltern habe ich Johnny Cash zum erstenmal gehört, abwechselnd mit Aretha Franklin und Wilson Pickett, vor zwanzig Jahren.
Diesen Song, spricht Cash (und er heißt ja, anders als Blixa Bargeld, wirklich so), widme er seinen Eltern, ohne die er „nicht hier wäre“; sanftes Gelächter. Sie hätten ihn immer ermutigt zu singen.
An der akustischen Gitarre spielt sein Sohn, der nicht so aussieht, und die großen Momente des Abends gelten dem Gastauftritt seiner Frau June Carter-Cash. Mit ihr singt Cash das Lied, das davon handelt, wer zuerst über den Jordan muß: Und wenn ich es bin, heißt es, male ich da drüben solange Figuren in den Sand. Als seinen „favorite entertainer, my sweetheart and partner“ hat er sie angekündigt.
Ihren Soloauftritt schmückt sie mit kleinen Ausführungen über ihre Eltern, die – wie sie sagt – zur ersten Generation dieses Sounds gehörten. Die Carters seien alle BackgroundsängerInnen bei Johnny Cash gewesen. Während ihrer Ausführungen kommt Unruhe auf, die nichts damit zu tun hat, daß sie spricht, sondern daß sie in breitem Landamerikanisch Familienbindungen thematisiert. „Before I was Mrs. Johnny Cash...“ Großeltern, Enkel, Ehemann und Ehefrau: immer noch ein heikles Thema bei einem linksgeneigten Publikum. Dabei handeln die meisten Songs genau davon („The circle is unbroken“), von den Traditionen der Arbeit, der Musik, des bäuerlichen und des nationalen Landes, von der Rückkehr zu den Wurzeln nach Eskapaden. Ein Duo geht: „If I were a carpenter / And you were a lady / Would you love me anyway / And have my baby?“
Die Männergesten des Sängers sind formal und schnörkellos. War Johnny Cash – frage ich MK – eigentlich das Vorbild deines Vaters? Und er sagt: Das ist gar nicht klar, wer die Platten mitgebracht hat, meine Mutter oder mein Vater.
Sein Vater war rechts und die Mutter links; sie gingen auseinander und die Siebziger zur Neige, als MK achtzehn war. Welche Rolle spielte Country und welche Soul?
Im schwarzen Hemd und Anzug, mit seinen silbergrauen Löckchen, strahlt er eine konservative Würde aus, wie man sie von älteren Jazzern kennt. An den Tasten sitzt ein Rock 'n' Roller im Beamtenlook, an den Drums ein weißbärtiger Alter; der Bassist, kurz geschoren, wirkt eher metropolitan, und der E-Gitarrist verbirgt sich hinter einer Westernmaske mit Hut. Die Gruppe könnte unterschiedlicher nicht sein und wirkt so alterslos und homogen wie keine Band seit langem. Keine Nachlässigkeit, keine Geistesabwesenheit; es ist vollkommen klar, worauf sich ihre Energien richten und woher sie kommen.
Sie sind gerichtet auf ein Bündel von Liedern, mit treppensteigenden Bässen und säuselnden Dur- Akkorden und gebremst wirkenden fixen Tempi, die sich mit abenteuerlich schlingernden Dissonanzen verabschieden: eine komplexe, satte, perfekte Musik, in keinem Moment blasiert. Lauter kleine Prärieträume, bei Dämmerung aus dem Ärmel geschüttelt. Nee – sage ich einmal zu MK – den Song „gibt's schon immer“. Was ja Quatsch ist, aber so hört sie sich an, die Musik des Meisters, vor 65 Jahren geboren in Arkansas. Als gehöre sie den Leuten. Ulf Erdmann Ziegler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen