: Krank und einsam fern der Heimat
Immigranten sind häufiger krank als ihre deutsche Kollegen, die Kindersterblichkeit liegt über dem Durchschnitt. In Berlin setzt eine Initiative auf ein „ethnomedizinisches Zentrum“ ■ Von Jeanette Goddar
Bei ihrer Ankunft in Deutschland waren sie kerngesund. In Istanbul oder Athen hatten sie sich in einem Rundum-Check auf Herz und Nieren überprüfen lassen müssen, um überhaupt kommen und arbeiten zu dürfen.
Doch die Arbeit hat ihre Spuren hinterlassen: Ausländische Arbeitnehmer, so sagt es die Statistik, sind häufiger und länger arbeitsunfähig als Deutsche, müssen öfter und früher Invalidenrente beantragen.
Am auffälligsten sind die Unterschiede bei chronischen Lungen-, Atemwegs- und bei Tumorerkrankungen in Magen und Darm – von denen angenommen wird, daß sie nicht unwesentlich von äußeren Bedingungen beeinflußt werden.
Doch nicht nur die, die als Gastarbeiter angeworben wurden und inzwischen die 50 Jahre überschritten haben, werden häufiger krank als ihre deutschen Kollegen: Kinder ausländischer Eltern werden häufiger tot geboren als deutsche. Auch die Säuglingssterblichkeit ist höher. Ein Drittel aller Tuberkulosefälle in der Bundesrepublik zwischen 1992 und 1995 wurde bei Ausländern registriert – gegenüber einem Bevölkerungsanteil von 13 Prozent. Den desolaten Gesundheitszustand der häufig traumatisierten Flüchtlinge oder Illegaler kann man angesichts der Gesetzeslage in den meisten Fällen nur erahnen.
In Berlin will eine Kreuzberger Initiative dieser Lage jetzt mit einem Ethnomedizinischen Zentrum begegnen. Orientiert an Vorbildern in Hannover und den Niederlanden soll dort nachgeholt werden, was 40 Jahre lang versäumt wurde: von der Bestandsaufnahme des Gesundheitszustandes der nichtdeutschen Bevölkerung sowie der bestehenden Angebote bis hin zur Informationsbörse. Dolmetscher – und zwar solche mit medizinischen Kenntnissen – sollen von dort ebenso vermittelt werden wie MigrantInnen, die im Gesundheitsbereich arbeiten möchten. Und weil die Kommunikation zwischen Arzt und Patient oft nicht nur an der Sprache scheitert, sollen dort auch Medizinkenntnisse und -begriffe anderer Kulturkreise vermittelt werden.
„Ethnomedizin verknüpft die Bereiche Medizin, Soziales und Umwelt“, erläuterte kürzlich bei der Vorstellung des Projekts auf einer Berliner Fachtagung Ali Savaser, Vorsitzender der Berliner Gesellschaft türkischer Mediziner. „Es bedeutet auch die Auseinandersetzung mit Akupunktur und Yoga.“
„Wir haben bisher fast nur auf soziale Integration geachtet, auf die Wohnsituation, Sprachkurse, Schule“, begründete die Kreuzberger Sozialstadträtin Ingeborg Junge-Reyer (SPD), in deren Bezirk Menschen aus 178 Ländern leben, die Initiative ihres Bezirks. Jetzt werde offensichtlich, daß dies nicht reiche. „Wir müssen uns auf eine einsetzende Altersarmut einstellen und auf einen schlechten Gesundheitszustand vieler Einwanderer.“
Die Ursachen für die häufigen Krankheiten unter Migranten sind nach Ansicht der etwa einhundert Experten, die in Berlin zusammenkamen, zahlreich: Da sind die Auswirkungen schlechter Arbeitsbedingungen, denen Deutsche so nicht ausgesetzt sind – Lärm, Schichtdienst, gefährliche Maschinen, schlechte Luft. Hinzu kommen die psychischen Belastungen, die ein unsicherer Aufenthaltsstatus mit sich bringt, die häufig als schmerzhaft erlebte Trennung von der Familie. „Und auch der Rassismus, nicht nur der gewalttätige, sondern auch die alltägliche Diskriminierung macht Menschen krank“, erklärte Gerlinde Berg, Gesundheitsforscherin an der Technischen Universität Berlin.
Ganz zu schweigen von der schlechten medizinischen Versorgung vieler Einwanderer. Die hohe Zahl der Totgeburten ist eindeutig auf eine Nichtbetreuung während der Schwangerschaft zurückzuführen. „Die Hemmschwelle, zum Arzt zu gehen, ist oft sehr hoch“, so Savaser. Er weiß auch warum: „Es gibt Krankenhäuser, da werden die Reinigungskräfte zum Übersetzen herangezogen. Das macht nicht nur die Diagnose schwierig.“ Türkisch, polnisch oder arabisch mag in vielen Krankenhäusern noch gesprochen werden – andere Minderheiten aber sind noch schlechter dran.
So beklagten Mitarbeiter des öffentlichen Gesundheitsdienstes in Berlin in einer Umfrage Kommunikationsprobleme inbesondere mit Vietnamesen und Bosniern. „Vor allem aber fehlt eine Vernetzung“, so Savaser. „Es gibt schon Angebote, aber man muß ja auch wissen, wo.“
Für eine Verbesserung der Versorgung sprechen für Gerlinde Berg nicht nur gesundheitspolitische Argumente. „Krankheit und Invalidität bedrohen heutzutage nicht nur den Gesundheitszustand, sondern auch den Aufenthaltsstatus.“
Bis das ethnomedizinische Zentrum in Berlin seine Pforten öffnet, dürfte aber noch geraume Zeit vergehen. Von der Ärztekammer bis zur Senatsverwaltung für Arbeit und Frauen wird zwar Unterstützung signalisiert; ob sich aber auch Geldgeber finden, bleibt abzuwarten. Hilfe der öffentlichen Hand scheint derzeit wenig wahrscheinlich. Schließlich gibt es in Berlin derzeit ein Thema, das alle anderen unter sich begräbt: die desolate finanzielle Lage des Landes.
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