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Täglich guter Stoff zu 15 Fränkli

■ Nachhilfe für deutsche Drogenpolitiker: Gestern reiste der Gesundheitsausschuß des Bundestages in die Schweiz. Dort gibt's, ärztlich verordnet, Heroin vom Staat für Schwerstabhängige. Von Manfred Kriener

Täglich guter Stoff zu 15 Fränkli

Ort des Geschehens ist ausgerechnet das Gebäude der alten Berner Pathologie. Hier, in einem großen hellerleuchteten Saal, den eine hölzerne Trennwand in zwei Räume unterteilt, treffen sich seit Juni 1994 die Junkies der Stadt. Nicht alle, nur die wirklich harten, schwerstabhängigen Fixer sind zugelassen. Sie müssen älter sein als 20 Jahre und mindestens zwei Jahre voll auf Heroin. Sie müssen in Bern wohnen und die üblichen Therapieversuche erfolglos absolviert haben.

Wer hierherkommt, erfüllt mustergültig die Kriterien des Elends. Die Begleitforscher der Universität Zürich sprechen von „einer langen Suchtkarriere mit vielfältigen gesundheitlichen und sozialen Defiziten“. Konkret: Die Junkies sind in der Regel arbeitslos, hoch verschuldet, leben von „illegalen Einkünften“ und Prostitution, sind straffällig geworden und waren im Knast. Ihre Gesundheit ist ramponiert, ihre Wohnsituation „unstabil“, ihr Drogengebrauch exzessiv. Viel hilft viel. Im Schnitt seit zehn Jahren nehmen sie Heroin, außerdem vor allem Kokain, Barbiturate (Schlaf- und Beruhigungsmittel), Alkohol, Nikotin, Haschisch.

Sie kommen herein, warten bis sie an der Reihe sind, treten an die Theke und verlangen vom Pflegepersonal eine von ihnen selbst bestimmte Dosis, die 800 Milligramm täglich nicht übersteigen darf. Bevor sie das Heroin bekommen, sehen sich die Mitarbeiter des Berner Drogenprojekts ihr Gegenüber genau an. Wer erkennbar „Gassendrogen“ intus hat, lallend, mit weichen Knien oder verengten Pupillen vor ihnen steht, wird wieder weggeschickt oder bekommt nur eine halbe oder viertel Ration ausgehändigt. Die meisten kriegen aber die gewünschte Menge – allerdings nicht umsonst. Die Tagesdosis kostet den eher symbolischen Betrag von 15 Franken. Herstellungspreis: 6 Franken. „Die Patienten sollen lernen, daß es nichts umsonst gibt auf dieser Welt“, sagt Drogenhelferin Barbara Mühlheim (38), die von Beginn an im Leitungsteam des Berner Projekts aktiv war.

Die Junkies gehen zu einem der vier Tische, auf denen Alkoholtupfer, Pflaster, Reinigungsmittel und Papierservietten liegen. Unter Aufsicht des Pflegepersonals injizieren sie sich dort den ärztlich verschriebenen Stoff. Bei langjährigen Junkies mit Abszessen und chronischen Venenentzündungen geht das nur noch in die Fußvene. Wer dabei schlampert, nicht sauber desinfiziert und nicht betont langsam spritzt, muß beim nächsten Mal warten, bis ihm die Pflegerin zeigt, wie man's richtig macht. Die leere Spritze wird nach der Injektion vorgezeigt, bevor sie im Entsorgungseimer verschwindet. Es gibt kein Take-home-System – auch nicht als Belohnung für fortgeschrittene Patienten. Der Stoff muß immer in der Pathologie gespritzt werden.

Im Abgaberaum herrscht oft Unruhe, Hektik, eine aggressive Stimmung. Es wird gestritten, geschrien, manchmal knallen auch die Türen. Der einen ist die genehmigte Dosis zu niedrig, den anderen nervt, schwitzend und von Entzugssymptomen gequält, die lange Warterei. Die ärztlich kontrollierte Abgabe von Opiaten, das derzeit erfolgversprechendste Modell der Heroin-Therapie bei verelendeten Langzeitabhängigen, ist alles andere als eine berauschende Veranstaltung. Die Hausordnung ist rigide und sanktionierend, tägliches Erscheinen ist Pflicht. 20 Teilnehmer wurden bisher aus dem Berner Projekt hinausgeworfen.

Als eine Art „Nacherziehung“ begreift Mühlheim ihr Projekt. Die Junkies bekommen nicht nur Heroin, sondern Gespräche und Unterstützung angeboten. Sozialarbeiter, Psychologen, Ärzte, Juristen, Pfleger gehören mit zum zehnköpfigen Berner Team. Es hilft bei der Suche nach Wohnung, Arbeit, neuen Beziehungen, vermittelt Psychotherapien, bietet sich an als Kompaß bei der Neuorientierung. Nach raschen, vor allem gesundheitlichen Fortschritten kommt für die Junkies schnell die Phase der Ernüchterung. Irgendwann begreifen sie das Ausmaß ihres Scheiterns. Dann stehen sie nicht nur vor den Trümmern ihrer Existenz, sondern auch vor dem schwierigen Neuanfang.

Barbara Mühlheim ist drei Jahre nach dem Start sichtbar stolz auf die Ergebnisse. „Wir haben es geschafft, mit schwierigsten Drogenkonsumenten eine Beziehung aufzubauen. Wir binden die Leute an uns und erreichen tatsächlich Verhaltensänderungen.“ Ihr größter Erfolg: Die Zahl der Toten fiel von 9 Prozent unter den knapp 1.000 Berner Junkies auf 2,7 Prozent in der Modellgruppe.

138 Patienten betreut das Berner Projekt. Insgesamt nehmen 18 Städte mit bisher 1.210 Junkies an der vom Schweizer Bundesrat beschlossenen Erprobung der ärztlichen Abgabe von Heroin teil. Kommunalparlamente, Kantone und Krankenkassen beteiligen sich an der Finanzierung. 40 Franken pro Tag und Patient kostet der Modellversuch in Bern. Der Rat der Stadt hat die ideologischen Mauern durchbrochen und das Projekt ausdrücklich begrüßt: „Der Gemeinderat ist sich bewußt, daß unsere Gesellschaft wohl auch in Zukunft mit der Suchtproblematik leben muß. Er unterstützt gerade deshalb die Suche nach neuen Wegen und unkonventionellen Lösungsansätzen.“

Die Heroinabgabe wird wissenschaftlich begleitet und unter anderem von der Genfer Weltgesundheitsbehörde WHO überwacht, zur Jahresmitte wird der Abschlußbericht erwartet. Aber die Erfolge sind schon jetzt unübersehbar, eine Verlängerung gilt als sicher. Die große Sorge, daß Patienten an Überdosierungen oder im Schock sterben, Ärzte und Pfleger von wildgewordenen Junkies massiv angegriffen werden könnten, war bislang unbegründet. Allerdings wurden in einigen Fällen epilepsieartige Anfälle nach der Injektion beobachtet. 21 Todesfälle wurden in den ersten beiden Jahren in den 18 Städten unter den 1.210 Patienten registriert. Ursachen: Aids an erster Stelle, aber auch Selbstmorde, Leberzirrhosen, Unfälle und in einem Fall eine Überdosierung mit Straßendrogen. Detailergebnisse des Modellprojektes wurden in mehreren Zwischenberichten vorgelegt:

– Der Konsum von im Urin nachweisbaren Straßendrogen ging deutlich zurück. Der Anteil der Patienten mit täglichem Kokainkonsum reduzierte sich nach einem Jahr von 31 auf 7 Prozent.

– Die Heroindosis konnte allmählich gesenkt werden. In Bern ging die Tagesration von anfangs rund 600 auf heute 345 Milligramm zurück. Fünf Prozent der Berner Teilnehmer sind inzwischen abstinent. Landesweit sind 17 Prozent der Teilnehmer in andere Therapieformen gewechselt, vor allem auf den Ersatzstoff Methadon.

– Schon nach einem Jahr hatten 50 Prozent der Junkies wieder eine Arbeit aufgenommen. Vorher arbeiteten 16 Prozent. Wohnungssituation, Gesundheitszustand und psychische Verfassung besserten sich deutlich.

– Der Anteil der Junkies mit illegalen Einkünften (Dealen und Beschaffungskriminalität) reduzierte sich (laut Selbstangaben) von 70 auf 14 Prozent.

Bilanz des Forschungsbeauftragten Ambros Uchtenhagen: die kontrollierte Abgabe habe sich als machbar erwiesen, die Sicherheit der Teilnehmer und Drogenhelfer „war gewährleistet“, alle Zwischenfälle seien ohne schwerwiegende Folgen geblieben. Die Teilnehmer wurden „in sehr befriedigendem Ausmaß“ in das Therapieprogramm integriert bei nur 11 Prozent Therapieabbrüchen.

Gefährdet ist die kontrollierte Heroinabgabe jetzt nur noch durch eine für dieses Jahr angesetzte Volksbefragung der Initiative „Jugend ohne Drogen“. Die von Teilen der Schweizer Volkspartei unterstützte Kampagne lehnt alle Heroinprogramme ab.

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