: Grauen und Wahrheit
■ Der unbedingte Blick: „Im Herzen der Finsternis. Victor Klemperer als Chronist der NS-Zeit“
Drangsalierungen, unablässige Demütigungen und tätliche Beleidigungen, Ausgrenzungen, Isolation, Verfolgung und Auslieferung an die totale Willkür. Die Geschichte kennt weder Gnade noch schert es sie, ob Unglaubliches vergessen wird. Der Aufsatzband Im Herzen der Finsternis. Victor Klemperer als Chronist der NS-Zeit, den Hannes Heer, Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, jetzt herausgegeben hat, ist daher unbedingt vonnöten. Er ist eine Art Nachhall auf die 1995 zuerst erschienenen Tagebücher des jüdischen Romanisten Victor Klemperer, die er von 1933-45 verfaßt hat. Sie sind, wie es Jan Philipp Reemtsma im Untertitel seines Beitrages nennt, „Stenogramme aus der Vorhölle“. Klemperer spricht nicht von der Hölle Auschwitz. Vielmehr vermessen seine Tagebücher, und gerade das macht ihre eigene Bedeutsamkeit aus, „mit dem Blick des Opfers“zum ersten Mal den gesamten Zeitraum des Schreckens“.
Das Buch, so Hannes Heer, „versucht die Einzigartigkeit dieses Blicks zu zeigen und den Wert dessen abzuschätzen, was er fixiert hat.“Ein Versuch, bei dem die insgesamt elf Autoren dieses Bandes zeigen können, wie mit dem Blick Klemperers wesentliche Fluchtwege der Verdrängung abgeschnitten sind: Jeder Versuch nämlich, die alltägliche „soziale Ermordung“der Juden (Reemtsma) ausblenden zu wollen.
Durch alle Zeit- und Verzweiflungsschichten des Tagebuchs hindurch spiegelt sich hier, wie Michael Wildt schreibt, „die Innenseite der Verfolgung“; und zwangsläufig die peinliche Gestalt jenes nach den „Nürnberger Gesetzen“definierten „Reichsbürgers“. Es zeigt sich, wie an der Perspektive des Opfers die Identität des Täters lesbar wird. Und daß es jene „Innenseite“überhaupt nur geben kann, wenn sie durch die Mehrheit jener „Volksgemeinschaft“gewaltsam hergestellt wird.
Es ist eine große Stärke der hier versammelten Aufsätze, wie nachhaltig sie die Konfrontation mit der Wahrheit vorführen. Sich mit den Tagebüchern dem schwierigen Bild nationaler Täterschaft zu stellen, dazu fordert der Blick Victor Klemperers auf.
Elisabeth Wagner
„Im Herzen der Finsternis“, hrsg. von Hannes Heer. Aufbau Verlag. Berlin 1997, 220 Seiten, 29 Mark
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