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Der Optiker als galaktisches Irrlicht

■ Yoshi Oidas „Molly Sweeney“–Inszenierung im TiK: bravouröses Schauspielertheater

Iranische Ziegen, erklärt uns Frank Sweeney mit der ihm eigenen freundlichen Aufdringlichkeit, leben in Irland im permanenten Jetlag. Frank Sweeney muß es wissen, denn er hat die Dinger mal importiert und mußte zwei Jahre lang mitten in der Nacht aufstehen, weil in Teheran die Sonne aufging. Sweeney, der seine Anregungen und sein Halbwissen zu gleichen Teilen aus National Geographic und Der kleine Heimwerker bezieht, hat schon viel gesehen auf dieser Welt, aber das hat ihn nachhaltig beeindruckt. Und so fährt er fort, mit dem wahllosen Enthusiasmus des Autodidakten sich, uns und der Welt die Sache zu erklären: „Engramm nennt man das. Das kommt aus dem Griechischen und bedeutet eingraviert.“Eine unauslöschliche Prägung der Seele, die Orientierung in der Welt erst möglich macht.

Molly Sweeney orientiert sich über akustische, taktile und eufaktorische Engramme, zu deutsch: Ohren, Hände und Nase. Augen nicht, denn Molly ist blind. Trotzdem war ihre Welt eine reiche und glückliche – solange, bis sie Frank heiratete und er nach iranischen Ziegen und Megabienen Molly Sweeney zu seiner Sache erklärte. Im Verbund mit Dr. Rice, einst Stern am Himmel der Augenspezialisten und heute galaktisches Irrlicht, soll sie zum Glück der Welt des Lichts geleitet werden. Eine geballte Ladung eitlen, männlichen Imperialismus, die ins Unglück geistiger Umnachtung führt.

Brian Friels Drama Molly Sweeney ist weniger ein bewegtes Stück, als vielmehr eine bewegende Erzählung. Keine Dialoge, sondern einander ablösende Monologe berichten vom Geschehenen und das, ganz Theater-untypisch, durchgängig in der Vergangenheit. Trotzdem gelingt den Darstellern ein Glanzstück des Hier und Jetzt. Leise und eindringlich entwickeln Annette Paulmann, Christoph Bantzer und Hans Kremer auf der leeren Bühne ein dichtes Universum jenseits bunter Bilder, das durch ihre konzentrierte Präsenz bis in den letzten Winkel belebt wird.

Die Schauspieler stehen klar im Mittelpunkt der Inszenierung von Yoshi Oida. Der japanische Regisseur und – ästhetisch unübersehbar – langjähriges Mitglied des Ensembles von Peter Brook, läßt sie wie traditionelle Erzähler direkt ins Publikum sprechen. Doch die Erzähler wandeln sich in die Erzählten, springen mit schlafwandlerischer Eleganz zwischen Bericht und Verkörperung, Spiel und Schauspiel.

Im Wechsel der Ebenen und der Infragestellung von Kategorien liegt die Stärke von Molly Sweeney. Friel hat das Stück über Sehen und Verstehen nach einer Fallstudie des Neurologen Oliver Sacks geschrieben; Oida macht es im TiK zu einer nachhaltig wirkenden Parabel über menschliche Blindheit und Ignoranz wahrhaft universellen Ausmaßes. Christiane Kühl

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