Die Shell-Studie gilt als Gradmesser für die Befindlichkeit der Jugend im Land. Die neueste zeigt: Jugendliche haben Zukunftsängste, gerade weil sie sich realistisch aufs Erwachsenenleben einstellen und am Wertekanon der Erwachsenen orientieren Von Jan Feddersen

Die Last mit der Zukunft

Bundesjugendministerin Claudia Nolte, nesthäkchenhafte 31, sah nicht aus, als fürchte sie sich vor der Zukunft. Und so sagte sie gestern in fast provokanter Frische zu den Befunden der neuesten Shell-Jugendstudie: „Um Jugendliche für die Politik zu gewinnen, brauchen wir neue Veranstaltungsformen, mehr inhaltliche Diskussionen, offenere Strukturen und nachvollziehbare Meinungsbildungsprozesse.“ Lehrerinnenhaft mahnend fügte sie indes noch an, daß die bereits bestehenden „Mitwirkungsmöglichkeiten“ besser genutzt werden sollten. Danke, Frau Nolte. Aber da haben Sie was mißverstanden.

Die Studie zeichnet nämlich ein wesentlich trüberes Bild von dem, was Heranwachsende und junge Erwachsene zwischen 12 und 28 Jahren denken. Repräsentiver für die Stimmung im Lande ist die Feststellung eines 27jährigen Mannes aus dem Osten der Republik: „Was die Leute heute bewegt, ist eine große Unsicherheit, eine große Zukunftsangst. Man weiß nicht, wie es weitergeht, die Arbeitsplätze werden nicht mehr. Die anderen Menschen sind nicht mehr nur Konkurrenten, sondern Feinde. Es werden immer weniger, die von dieser Gesellschaft profitieren.“

Nicht depressiv, sondern realitätsbezogen

Die Zahlen des vom Berliner Professor Richard Münchmeier koordinierten Forschungsprojekts untermauern diese Stimme: Jeder zweite Jugendliche gibt an, Angst davor zu haben, überhaupt einen Arbeits- und Ausbildungsplatz zu bekommen. Und selbst diejenigen, die einen Job haben, fürchten, „die sichere Seite des Ufers wieder verlassen zu müssen“, so Münchmeier.

Geschlechtsspezifische Unterschiede gibt es bei diesen Zahlen kaum; auch der Ost-West-Gegensatz spielt keine Rolle. Und: 92 Prozent aller Befragten geben an, daß „Arbeitslosigkeit“ ein großes oder sehr großes „Problem für unsere Gesellschaft“ sei. Die Sozialforscher bewerten dies als „prägende Generationserfahrung“: Nicht eine „depressive Jugend“ hätten sie während ihrer Arbeit kennengelernt, sondern eine, die sich frühzeitig realistisch auf die Gegebenheiten des Erwachsenenlebens einstellen will.

Fast nur noch Spurenelemente der Anfang der achtziger Jahre diagnostizierten No-future-Generation sind festzustellen. Damals lag die Sorge um die Umwelt und einen möglichen Weltkrieg den Jugendlichen am meisten am Herzen, gepaart mit einer Weltsicht, nach der es keine Zukunft mehr gibt. Zugleich malte die vorige Generation sich selbst Idyllen mit Haus und Familie im Grünen – was schon damals der Partei der Grünen weltanschaulich viel Zuneigung einbrachte.

Tendenz: Unsicherheit, Gefühlslage: gemischt

Dieser Zeitgeist nimmt sich gegen die heutigen Einschätzungen fast wie ein Bild aus romantischen Tagen aus. Aber auch die Veränderungen im Vergleich zur letzten Studie aus dem Jahre 1992 sind kraß: Äußerten sich kurz nach der Wende noch 71 Prozent der Befragten optimistisch über die gesellschaftliche Zukunft, fiel der Wert auf mittlerweile 50 Prozent. Und, befragt nach der persönlichen Zukunft, wähnten sich vor sechs Jahren noch 59 Prozent der Heranwachsenden auf dem Weg zu einem materiell und immateriell stabilen Erwachsenenleben, so glaubt dies inzwischen nur noch ein Drittel. Tendenz: Unsicherheit; Gefühlslage: gemischt.

Jugendliche orientieren sich stärker am Wertekanon der Erwachsenen. Jugendliche Subkulturen stehen nicht mehr so hoch im Kurs wie ehedem: Nicht mehr Gegenentwürfe sind entscheidend, sondern Gegenakzente. Die meisten Befragten der Shell- Studie gaben an, sich mal hier, dann wieder dort in puncto Lebensstil zu bedienen. Auffällig ist der anhaltende Experimentiercharakter in einem Alltag, der Modell für ihr späteres Leben sein könnte. Deutlich abgelehnt werden extreme Lebensformen. Die überwältigend große Mehrheit lehnt sowohl Gewalt gegen Menschen ebenso ab wie einen Ausstieg aus der Gesellschaft schlechthin. Hooligans (nicht: Fußballfans) genießen bei kaum jemandem Ansehen: Sie stehen, knapp vor Faschos und Neonazis, auf der Haßliste mit 90 Prozent ebenso unten wie ganz oben mit 82 Prozent Zustimmung Tierschützer und knapp dahinter die Umweltschützer.

Die Rede von der faulen, depressiven Jugend wird von der Studie im übrigen überzeugend widerlegt. Man habe Schwierigkeiten gehabt, Interviewpartner zu finden, die sich gesellschaft gar nicht betätigen. Viele organisieren sich nach wie vor in Vereinen, bei der Freiwilligen Feuerwehr, im Umweltbereich oder in kommunalen Initiativen: Die meisten fühlen sich mit zuständig für das, was außerhalb ihres eigenen Gesichtskreises passiert. Aber die politischen Parteien werden selten ins jugendliche Kalkül einbezogen.

Das Vertrauen in sie ist gering. 38 Prozent fühlen sich keiner der Formationen nahe. Auffällig: Die Grünen haben seit 1991 leicht, aber meßbar an Zustimmung verloren, ebenso die SPD. Nur die CDU – wohl dies auch ein Zeichen von Realismus mangels Alternativen – darf sich über leichte Zuwächse freuen. Sozialforscher Münchmeier brach dementsprechend eine Lanze für seine Forschungsobjekte: „Nicht die Politikverdrossenheit der Jugend, sondern die Jugendverdrossenheit der Politik wird zur Frage.“