: Lange Schatten der Vergangenheit
50 Jahre nach den gegenseitigen Massakern und Vertreibungen wollen die Präsidenten der Ukraine und Polens morgen eine gemeinsame Versöhnungserklärung unterzeichnen ■ Aus Warschau Gabriele Lesser
„Wischen wir das Blut vom Säbel!“, Verletztes Gedächtnis trotz Versöhnung“, „Wahrheit und Gerechtigkeit – Bedingung der Versöhnung“: Seit dem Besuch des ukrainischen Staatspräsidenten Leonid Kutschma in Polen im Januar dieses Jahres kommen die polnisch-ukrainischen Beziehungen nicht mehr aus den Schlagzeilen. Eine Historikerkonferenz jagt die nächste, der „Kongreß der Ukrainer in Polen“ erobert die Titelseiten aller großen Zeitungen in Polen, ein Denkmal für die 1947 von den polnischen Kommunisten verfolgten und vertriebenen Ukrainer im früheren Konzentrationslager Auschwitz-Jaworzno gerät ins Kreuzfeuer der Kritik.
Heute reist der polnische Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski nach Kiew. Im Gepäck hat er eine Versöhnungserklärung, an der polnische und ukrainische Wissenschaftler mehr als ein Jahr lang gearbeitet haben. Doch ob die Kompromißversion tatsächlich die Schatten der Vergangenheit vertreiben kann, ist fraglich. Denn noch fehlt der entscheidende Satz: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“
Die Rückkehr zur Geschichte hat für die Politiker einen ganz pragmatischen Grund. Ohne die Aufarbeitung der ukrainischen Verbrechen an den Polen wie der polnischen Verbrechen an den Ukrainern dürften alle Vereinbarungen über künftige Zusammenarbeit in kürzester Zeit zu Makulatur werden. Dies hat einen ganz simplen Grund. Die Bevölkerung macht nicht mit. In Umfragen liegt der politisch so gepflegte „strategische Partner Polens“ noch immer am Ende der Beliebtheitsskala. Die „Wolhynien-Morde“ von 1943 und die „Aktion Weichsel“ von 1947 vergiften noch immer das Klima. Über 50 Jahre lang verhinderte die Zensur eine Auseinandersetzung mit den eigenen Verbrechen und dem Leid der anderen. Die in Polen vorherrschenden Vorurteile gegen die ukrainischen Nachbarn, „Banditen“, „Mörder“ und „Barbaren“, sitzen tief. Sie gehen zurück auf den Sommer 1943. Unter dem Druck der russischen Offensive mußte sich Hitlers Armee mehr und mehr in Richtung Westen zurückziehen. Der Rückzug hatte aber mitnichten zur Folge, daß die Bevölkerung Wolhyniens im Südosten Polens nun aufatmen konnte. Statt der Naziarmee fielen nun Soldaten der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) über die Bevölkerung her. Über die tatsächliche Zahl der ermordeten Polen gehen die Schätzungen weit auseinander.
Der polnische Historiker Wladyslaw Siemnaszko geht von 34.650 ermordeten Polen aus, andere schätzen die Zahl auf bis zu 80.000. Im Gedächtnis der Polen blieben brennende Dörfer, skalpierte Männer, erdolchte Kinder und vergewaltigte Frauen. Wolhynien, zwischen Polen und der Ukraine historisch umstritten, sollte bei Ausbruch des Dritten Weltkriegs, von dem die ukrainischen Nationalisten ausgingen, eine ukrainische Bevölkerungsmehrheit haben. Ziel war der unabhängige Staat Ukraine. Rachefeldzüge der Polen gegen ukrainische Dörfer waren die Folge. Das gegenseitige Gemetzel hielt bis 1947 an. Längst schon waren die neuen Grenzen im Osten Europas festgelegt und war ein großangelegter „Bevölkerungsaustausch“ zwischen Volkspolen und der Sowjetrepublik Ukraine vereinbart. Als bis März 1945 nur 81.000 Ukrainer Polen freiwillig verlassen hatten, halfen die polnischen Kommunisten mit Gewalt nach. Drei Infanteriedivisionen vertrieben fast eine halbe Million Menschen in die Ukraine. Als die Ukrainische Aufstandsarmee am 28. März 1947 den stellvertretenden polnischen Verteidigungsminister General Karol Swierczewski ermordete, nahmen die Kommunisten dies zum Anlaß, die noch im Südosten Polens verbliebenen 150.000 Ukrainer in die ehemaligen deutschen Ostgebiete zu vertreiben. Die „Aktion Weichsel“ begann: In Güterwaggons wurden die Vertriebenen zuerst nach Auschwitz verfrachtet. Zwei Jahre lang hatte das ehemalige NS-Konzentrationslager den Polen als Gefangenenlager für Deutsche und Volksdeutsche gedient. Erst als entschieden war, daß das KZ in eine Gedenkstätte des polnischen Martyriums umgewandelt werden sollte, begann die Verlegung der deutschen Gefangenen. Zu Beginn der „Aktion Weichsel“ war es bereits leer. In Auschwitz-Jaworzno (früher „Dachsgrube“) ließ das Politbüro „Verdächtige“ festsetzen: die ukrainische Intelligenz, griechisch- katholische Geistliche sowie Frauen und Männer, die der UPA freundlich gesinnt waren. In Jaworzno starben knapp 200 Menschen aufgrund von Folterungen und Erschöpfung. Die meisten Gefangenen saßen ohne Urteil bis Ende 1947, einige hundert sogar bis Ende 1948. Von Auschwitz aus wurden die überlebenden Ukrainer über das ganze Land verteilt.
Morgen nun wollen die beiden Präsidenten Kwaśniewski und Kutschma ihre Unterschrift unter den endgültigen Wortlaut der gemeinsamen Versöhnungserklärung setzen und damit ein dunkles Kapitel der Nachbargeschichte beenden. Vielleicht fällt ja doch noch der Satz: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“
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