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Dubioser Polizeieinsatz

■ Die chilenische Polizei „besichtigt“ die Colonia Dignidad und zieht wieder ab. Der Sektenchef bleibt vorerst verschwunden

Buenos Aires (taz) – Mit Glockengeläut und Feuerwehrsirenen warnten die Wachdienste der Colonia Dignidad ihre Bewohner vor der Polizeidurchsuchung am Dienstag morgen. Zwar war die Polizei mit knapp vierhundert Beamten angerückt, allerdings bekamen nur dreißig Carabinieri den Befehl, das 13.000 Hektar große Gelände zu durchforsten. Was sie dort suchten, ist unsicher. Denn die Beamten zogen nach rund viereinhalb Stunden wieder ab, festgenommen wurde niemand.

Ob sie tatsächlich versucht haben, den Sektenchef Paul Schäfer festzunehmen, und ihn nur nicht gefunden haben, ist ebenso unklar. Gegen den 76jährigen Gründer und Führer der Sektensiedlung liegt in Chile seit sechs Monaten ein Haftbefehl wegen Vergewaltigung eines zwölfjährigen Jungen vor. Schäfer wird mit internationalem Haftbefehl gesucht, obwohl anzunehmen ist, daß er sich in der Colonia Dignidad verkrochen hat. Seit Tagen wurde vermutet, daß die Polizei in die Colonia Dignidad eindringen wird, um Schäfer festzunehmen. Doch die Beamten kamen zur Überraschung vieler ohne ihn wieder heraus.

Das war keine Razzia, die Aktion diente der Informationsbeschaffung“, bügelte der Einsatzleiter der chilenischen Polizei, Julio Carrasco, die Angelegenheit glatt. Gleichzeitig lobte Carrasco „die Kollaboration“ der Sektenmitglieder, die das Haupteingangstor zu dem Gelände offengelassen hatten. Das Riesengrundstück ist mit einem Maschenstacheldrahtzaun, Hochsitzen und elektronischen Alarmsystemen von der Außenwelt abgeriegelt. Vorher war befürchtet worden, daß es zu Zusammenstößen zwischen Polizeibeamten und den bewaffneten Sektenanhängern kommen könnte.

Schon wurden Stimmen laut, die den Polizeieinsatz als zu lasch bezeichneten. Bei einer Durchsuchung eines Geländes, das dreimal so groß ist wie der Stadtstaat Bremen, müßten mehr als dreißig Beamte eingesetzt werden, wenn sie Erfolg haben soll. Außerdem brauchten die durchsuchenden Polizisten Unterstützung durch Hubschrauber. „Eine reine Besichtigung ist wie eine Frage nach der Erlaubnis zu einer Hausdurchsuchung“, kritisierte der sozialistische Parlamentsabgeordnete Jaime Naranjo. Er nannte den halbherzigen Polizeieinsatz „eine Spötterei“ und einen „Betrug an der öffentlichen Meinung“.

Die gesamte rechtliche Situation der Colonia Dignidad sei unerhört, denn es bestehe in Chile ein Netz einflußreicher Kreise, die stets ihre schützende Hand über die Sektensiedlung halten. Dadurch könne Schäfer die chilenische Justiz zum Narren halten. Naranjo verglich Schäfers Verhalten mit dem des ehemaligen Chefs des Geheimdienstes DINA, Manuel Contreras. Nach seiner Verurteilung wegen Mordes an dem ehemaligen Außenminister Orlando Letelier lebte Contreras ungestört einige Monate in Chile in Freiheit.

Der chilenische Innenminister Carlos Figueroa unterstützte die Polizeiaktion vom Dienstag. Gleichzeitig ist ihm die Situation Schäfers ebenfalls nicht ganz geheuer. Daß Schäfer es ablehne, sich der Justiz zu stellen, sei „anormal“. Dieser Ansicht sind offensichtlich auch die beiden Rechtsanwälte des Sektenchefs: Sie haben ihren Job bei Schäfer gekündigt, weil dieser sich nicht stellen will.

Der Wind scheint sich dennoch gedreht zu haben für die Colonia Dignidad in Chile. Zwar gibt es immer noch wichtige Beschützer der Sektenburg, doch ihre Zahl sinkt. Seit jedoch bekanntgeworden ist, daß auch chilenische Kinder unter den Opfern der Sekte sind, war für viele das Maß voll. So hat Chiles wichtigste Zeitung El Mercurio, die traditionell auf der Seite der deutschen Sekte war, ihre Richtung geändert und berichtet nun über die kriminellen Machenschaften der Sekte.

Die Polizeiaktion vom Dienstag könnte auch ein Indiz dafür sein, daß die Colonia-Anhänger sich in Südchile weiterhin sicher fühlen können. Die am Montag verhafteten Wachmänner, die ein ARD- Team bei Außenaufnahmen der Sektenburg verprügelt haben, sind wieder auf freiem Fuß. Ingo Malcher

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