: Der größte Aktivposten heißt China
■ Hongkong ist bereits heute ökonomisch von der Volksrepublik abhängig. Der 1. Juli ist nur ein weiterer Tag im Prozeß zunehmender wirtschaftlicher Integration
Der 1. Juli 1997 wird ein sehr wichtiger Symboltag für die chinesische Geschichte. Der Abschluß eines Kapitels, das mit einer Demütigung Chinas begann, hat Bedeutung für Chinesen aller politischen Richtungen. Aber für die praktischen Aspekte des Lebens in Hongkong, insbesondere des Wirtschaftslebens, ist der 1. Juli nur ein weiterer Tag in einem Prozeß zunehmender ökonomischer Integration mit China. Dieser Prozeß hat bereits vor vielen Jahren begonnen und wurde eher aus praktischen denn politischen Gründen vorangetrieben.
Nicht die britische Herrschaft hat Hongkong ein eigenständiges soziales, monetäres und politisches System gegenüber China verschafft. Das war vielmehr eine bewußte Entscheidung der chinesischen Führer, die davon ausgingen, ihren Interessen sei durch die Trennung besser gedient als durch die Integration. Aber sie hatten schon seit vielen Jahren die Option, diese Entscheidung rückgängig zu machen, und diese Option werden sie sich auch offenhalten.
Hongkong ist für 60 bis 80 Prozent seines Trinkwassers und etwa die Hälfte seiner Lebensmittel von China abhängig. An diesen Tatsachen ändert sich am 1. Juli nichts. Deshalb ist das politische Risiko für Hongkong letzten Endes keine neue Variante, sondern eine Konstante. Die Wahrscheinlichkeit, daß China sich für die Option der Integration entscheidet, ist heute und in der Zukunft nicht größer als in der Vergangenheit. Daß China jederzeit Hongkongs Sonderstatus ein Ende setzen kann, macht es zum größten Negativposten in Hongkongs Bilanz.
Aber China spielt zugleich auf der Habenseite die größte Rolle. China versorgt Hongkong nicht nur mit Wasser und Lebensmitteln, sondern war immer ein wichtiger Faktor für Hongkongs erstaunliche Wachstumsbilanz nach 1945. Wohlhabende Flüchtlinge aus Shanghai, arme aus der benachbarten Provinz Guandong trugen wesentlich dazu bei, daß Hongkong sich aus einer Handelsmetropole zu einem Industriestandort entwickeln konnte. Das US-Embargo für den Handel mit China, das beim Ausbruch des Koreakriegs verhängt wurde, machte dies notwendig.
China war auch Katalysator für Hongkongs letzte ökonomische Transformation. Mitte der achtziger Jahre bedrohten die steigenden Arbeits- und Grundstückskosten die Konkurrenzfähigkeit der Hersteller Hongkongs. Die Öffnung der chinesischen Wirtschaft durch den verstorbenen Deng Xiaoping verschaffte den Zugang zu billigeren Arbeitskräften und Grundstücken, die Hongkongs Produzenten wirksam nutzen konnten.
Hongkong gibt inzwischen fünf Millionen Menschen Arbeit jenseits seiner Grenzen. Investitionen aus Hongkong (und Taiwan) haben das Delta des Perlflusses in ein wichtiges Zentrum der Leichtindustrie verwandelt. Kaum 15 Prozent der Beschäftigten Hongkongs sind heute noch in der Produktion tätig: Dennoch war dieser dramatische Wandel von einer Verdoppelung der Reallöhne und anhaltender Vollbeschäftigung begleitet.
Hongkong ist weit mehr als nur ein Tor nach China. „Tor“ impliziert eine passive Rolle. Hongkong dagegen ist sehr aktiv, verknüpft und integriert Inputs aus China, aus Hongkong selbst und der ganzen Welt zu einer Palette einzigartiger Konkurrenzvorteile. Deshalb konnten Investoren aus Hongkong bei Kapitalinvestitionen in China hervorragende Renditen erzielen, während sich für andere das Profitstreben in China weitaus schwieriger gestaltete.
Aber auch Chinas Investitionen in Hongkong bilden einen wichtigen Bestandteil dieser Beziehung. Viel Aufmerksamkeit erregten einige der neueren Transaktionen größeren Ausmaßes, wie der Erwerb eines bedeutenden Anteils an Cathay Pacific Airways, der offiziellen Fluglinie Hongkongs. Aber China besaß und betrieb bereits seit vielen Jahren einen bedeutenden Teil von Hongkongs Wirtschaft. Firmen in Festlandsbesitz kontrollieren ein Viertel der Bankguthaben, ein Viertel des Versicherungsgeschäfts, den größten Teil von den 50 Prozent der chinesischen Exporte, die über Hongkong gehen, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Firmen gehören ebenso zum Wirtschaftsestablishment Hongkongs wie die Hongkong-Bank und die britischen Handelsimperien Swire und Jardines.
Das Verhältnis China-Hongkong ist offensichtlich eine eingespielte Angelegenheit. Jede Voraussage für die Zukunft muß beide Seiten der Bilanz berücksichtigen. Die Diskussion über Hongkong konzentriert sich viel zu stark auf eine Seite (gewöhnlich die Passiva). Eine ausgewogene Analyse führt schnell zu der Schlußfolgerung, daß China alles in allem einen bedeutenden Aktivposten darstellt und das wahrscheinlich auch bleiben wird. Richard Margolis
Der Autor ist Vizepräsident der Investmentbank Merrill Lynch in Hongkong. Zuvor arbeitete er als China-Experte für das britische Außenministerium und war als Berater für den Gouverneur von Hongkong bei den Verhandlungen mit China tätig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen