: Und bisweilen fällt Emma aus der Sänfte
■ Selten schaurig: „Die Frau des Sultans“von Pierre Christin und Annie Goetzinger
„Reichlich kitischig“, befanden gemeinhin geschmackssichere Testpersonen nach der ersten Durchsicht des hier zu rezensierenden Albums. Doch das ist nur ein Drittel der Wahrheit. Denn wie kaum einer anderen Zeichnerin gelingt es Annie Goetzinger, ihre Comics kitschig, leblos und langweilig zugleich aussehen zu lassen. Charaktere, die posieren wie Kleiderpuppen, Interieurs direkt aus der Zahnpastareklame gepaust: eine selten schaurige Ästhetik, welche sich aber - die Welt ist schlecht - einer unbeirrbaren Fangemeinde erfreut, darunter zahlreiche Comic-Lektoren.
Exklusiv für all diese Menschen hat sich jetzt Pierre Christin - er wurde vor zwanzig Jahren mit Szenarien für den ebenso ungenießbaren Enki Bilal bekannt - eine Geschichte ausgedacht, in der es um das zeitlose Thema „Traum und Wirklichkeit“geht. In der Welt der britischen Kolonialherren, um das Jahr 1950, erlebt ein brünettes Luxusweib namens Emma allerlei Belanglosigkeiten. Meistens besucht sie Abendgesellschaften; bisweilen fällt sie aber auch aus der Sänfte oder heiratet einen Sultan.
Gegen diese bunte Märchenwelt indes, werden schwarzweiße Bilder aus dem London der Gegenwart gegengeschnitten. (Das ist eine Metapher.) Ein Arzt sichtet den Nachlaß einer alten, einsamen, soeben verstorbenen Jungfer. Selbige (heißt auch Emma) träumte davon, in Indien zu leben. Doch, ach!, sie verließ ihre Zweizimmerwohnung nie.
Das war's auch schon. Während aber durchschnittlich begabte Comic-Leser noch lange darüber nachgrübeln, ob Emma und Emma ein und dieselbe sind, und was dann Traum ist und was Wirklichkeit usw., haben die anderen längst all die kleinen Anspielungen entdeckt, mit denen Christin/Goetzinger ihre breit angelegte bürgerliche Bildung beweisen. (Sagt die eine Freundin beim Promenieren im Park: „Es scheint, daß Somerset Maugham übers Wochenende hier ist.“Sagt die andere: „Der Schriftsteller?“)
Hätte ich eine Oma, die Comics liest, ich würde ihr den Band sofort schenken. Sicher gefielen ihr die pastellfarbenen Tuschpinseleien. Leider ist meine letzte Oma, väterlicherseits, schon vor zwanzig Jahren verstorben. Gott hab sie selig.
Jens Balzer
Pierre Christin/ Annie Goetzinger: „Die Frau des Sultans“, Carlsen, Hamburg, 65 Seiten, 29.90 Mark
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