In Reichweite unserer Ängste

■ Nach 150.000 verkauften Klemperer-Tagebüchern liegt nun ein Essayband mit einem Aufsatz von Jan Philipp Reemtsma vor

Klemperer und kein Ende. Martin Walser griff nicht weit genug, als er im November 1995 bei der Verleihung des Geschwister-Scholl- Preises in München den damaligen Buchherbst „die Saison Victor Klemperer“ nannte. Im zweiten Jahr danach ist aus dem Bestseller „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“ ein Longseller geworden. Die beiden voluminösen Bände gingen schon mehr als 150.000mal über den Ladentisch. Trotz des nicht eben für jedermann erschwinglichen Preises von 128 Mark. Die ARD bereitet für 1999 eine 13teilige Fernsehserie vor.

Die Aufzeichnungen des Philologen und verfolgten Juden über den ganz gewöhnlichen Holocaust in der Kulturstadt Dresden zeugen inzwischen Sekundärliteratur. Der Hamburger Sozialforscher Hannes Heer, Leiter der umstrittenen Münchener Wehrmachtsausstellung, hat zwölf Texte von Historikern, Politologen, Kunstwissenschaftlern und Romanisten in einem Band versammelt. Nachträge über das Verhältnis Klemperers zu Deutschland und den Deutschen, ergänzende Analysen zur Vernichtung der Dresdner Juden, Recherchen über die Karriere des Gestapo-Schlägers Johannes Clemens bei östlichen und westlichen Geheimdiensten. Die erste Auflage (4.700 Exemplare) war innerhalb von Tagen vergriffen, die zweite ist eben bei Aufbau erschienen.

Eine neue These zur Klemperer-Rezeption

„Schon jetzt“, so der Optimist Hannes Heer, hätten Klemperers Tagebücher „die Sicht auf den Nationalsozialismus verändert“, denn „erstmals wird der gesamte Zeitraum des Schreckens mit dem Blick des Opfers vermessen“. Jan Philipp Reemtsma, sein Münchener Sponsor, ortete dagegen schon an früheren medialen Prüfungen wie dem Tagebuch der Anne Frank, der TV-Serie „Holocaust“ und dem Film „Schindlers Liste“ eine „kollektive Emotionalität“. Reemtsmas neue These: „Die Tagebücher entsetzen uns, aber sie versetzen uns nicht in eine Region, vor der unsere Imagination kapitulieren muß. Klemperers Realität ist in Reichweite unserer Ängste.“

Der Hamburger Millionenerbe und Schöngeist, der als Sponsor der Münchener Wehrmachtsausstellung in den letzten Wochen bei den Geschichtsverdrängern keine gute Presse bekam, bringt da offenbar seine eigene Extremerfahrung ein. Angekettet im Keller eines norddeutschen Hauses, von Geiselgangstern aus seiner bürgerlichen Existenz gerissen, gewann er zumindest eine Ahnung, was totale Demütigung und Ohnmacht bedeuten können. Womöglich hat ihn sein eigenes traumatisches Erlebnis dichter an Klemperers Notsituation herangebracht. Reemtsmas Klemperer-Aufsatz heißt: „Stenogramme aus der Vorhölle“.

„Es ist das Realität gewordene Zusammentreffen alles dessen, wovor es einer bürgerlichen Existenz in einem Zivilisationsgefüge graut“, schreibt Reemtsma wie unter einem Schauder, den er noch nicht losgeworden ist. Die Posten auf der Verlustliste, die er für Klemperer aufstellt, verraten Intimverständnis. Sie ergeben eine Mischung von Existentiellem und Banalem: Beruf, Häuschen, Auto, Geld, die Infrastruktur der Stadt, Bibliotheken, öffentliche Verkehrsmittel – alles wird ihm entzogen durch Kennzeichnung und Stigmatisierung: „Klemperer wird sozial ermordet.“

Erst der soziale, dann der physische Tod

Soziale Ängste kann im Jahr 1997 jeder benennen. Beinahe jeder. Wo die eigenen Nerven flattern, gerät das intellektuelle Grauen vor Auschwitz zum Abstraktum. 1.694 Tagebuchseiten lang ein nachhaltiger Kitzel von persönlicher Panik. Das beflügelt Phantasien, gegen die sich der Intellekt eigentlich lieber sperrt. Beklemmender als der physische Tod tritt auf einmal der soziale Tod hervor, der ihm voran geht.

Mit einem Umkehrschluß – einem unangebrachten – spielt denn auch schon mal vorausgreifend das deutsche Feuilleton: Klemperers DDR-Zeit, seine SED-Mitgliedschaft wird interpretiert als opportunistischer Reflex auf die Erlösung von ebendiesem sozialen Tod. Erhellender ist dagegen der Satz des Politologen Bernd Greiner: Mit der „Verweigerung jeder individuellen Verantwortung“ begann die neue Republik, so „daß sie noch lange Austragungsort vergangener Kämpfe blieb“. Klemperer wollte an dieser Republik nicht teilhaben, und so geriet er trotz vieler Zweifel in die Arme der anderen Deutschen, die sich antifaschistisch-demokratisch gaben und aus der Einvernahme antifaschistisch gesonnener bürgerlicher Intellektueller einen Gutteil ihres Legitimationsbedarfs deckte.

Die Sehnsucht nach der Kulturnation

Genauere Auskünfte werden die letzten Tagebücher geben, die vom Aufbau-Verlag für Ende 1998 angekündigt sind. Klemperers jüdisches Schicksal spielt darin keine Rolle. Um so mehr die große Sehnsucht nach der Wiederkunft der deutschen Kulturnation, der er sich immer zugehörig fühlte. Der verfolgte Jude hatte sich 1945 der Kommunistischen Partei angeschlossen, saß seit 1950 für den Kulturbund in der Volkskammer, reiste als Sendbote der (1952 von Ulbricht aufgelösten) Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes in den Westen. Von 1951 bis zu seiner Emeritierung 1955 war er Ordinarius des Romanischen Instituts der Berliner Humboldt-Universität.

Er war kein Marxist, aber versehen mit einer von der französischen Aufklärung herkommenden Kulturbotschaft, die er in der DDR gern verwirklicht gesehen hätte. Befangen zugleich in den Klischeebildern des Kalten Krieges von neuen faschistischen Gefahren im Westen und gelegentlich sogar geblendet vom Scheinglanz Stalins, aus dessen Zitatenschatz er sich bediente, als er 1952 im Berliner Kulturklub Johannes R. Becher eine große Rede zur Verteidigung der deutschen Sprache hielt.

Die letzten Tagebücher werden in der Tat den Blick auf einen anderen Klemperer öffnen: Illusionen und Kompromisse eines Mannes, der nicht mehr viele Lebensjahre hat, seine Sehnsüchte zu stillen. Entledigt der existenziellen Ängste, ist er innerlich aber nicht frei von der Furcht vor der Wiederkehr gesellschaftlicher Katastrophen. Peter Jacobs

Hannes Heer (Hg.): „Im Herzen der Finsternis. Victor Klemperer als Chronist der NS-Zeit“. Aufbau-Verlag, 240 Seiten, 29,90 DM