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Lange Tage und kein Bett mehr im Büro

Den Magdeburger Landtag beschäftigt neuerdings die Frage, ob Abgeordnete nach Sitzungstagen in ihren Büros übernachten dürfen. Bisher tun sie's, sparen Geld und sind zufrieden. Nun sollen sie ins Hotel  ■ Von Jens Rübsam

Es ist elf Uhr abends. Wir befinden uns in Magdeburg, am Domplatz 6 bis 9. Das Portal des Landtagsgebäudes ist erleuchtet. Vor der schweren Holztür steht Beate Thomann, 45 Jahre alt. Soeben ist sie angekommen. Sie wirkt müde. Der Tag war lang.

Zehn Uhr Eröffnung der 36. Sitzungsperiode des Landtages von Sachsen-Anhalt im Magdeburger Rathaus. Endlose Debatten bis halb acht abends. Über die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur Vorzimmeraffäre des Bauministers Heyer. Über die Novellierung der Gemeinde- und Landkreisordnung. Über den Rohstoffabbau außerhalb von Vorranggebieten. Dann, ab acht, der Parlamentarische Abend in einem Hotel in der Innenstadt. Endlose Reden bis kurz nach neun. Diesmal von Vertretern des Internationalen Bundes über den Internationalen Bund an sich und über die Ausbildungssituation von Jugendlichen. Dann Abendessen, spendiert vom Internationalen Bund. Frau Thomann greift zu Käse, Fisch und Wurst und Vollkornbrot. Ein wenig Salat noch. Dazu zwei Gläser Rotwein, französisch, trocken. Eine Flasche Wasser. Nebenbei Small talk mit den Herren von der CDU-Fraktion. Herr Becker prostet Frau Thomann, der bündnisgrünen Abgeordneten, zu. Herr Nägler macht einen Witz. Es wird halb elf. Frau Thomann verabschiedet sich. Sie will ins Bett.

Beate Thomann steht also um elf Uhr abends vor dem Landtagsgebäude am Domplatz. Drückt die Klinke herunter und preßt sich gegen die schwere Holztür. Grüßt die uniformierten Herren hinter der Glasscheibe. Sagt: „Ich schlafe heute wieder hier.“ Die Herren nicken: „Wenn irgendwas ist, Sie wissen schon.“ Frau Thomann signalisiert, daß sie Bescheid weiß. Geht durch die nächste Tür, über kahle Flure, geputzte Treppen, hinauf in das Zimmer C 3 - 16/18. Bleibt stehen vor einer Tür mit einem Plakat „Frauen gehen weiter“. Steckt den Schlüssel ins Schloß. Tritt ein ins Wohnbüro.

Thomanns Wohnbüro also. Rechts ein beladenes Regal. Akten für den Frauenrat. Für den Arbeitskreis Technologiepolitik. Für Jagd und Wald. Links eine Tür. Dahinter eine Naßzelle mit Klo und Dusche. An einem Haken ein gelbes Handtuch. Auf der Ablage ein lila Zahnputzbecher. Neben der Tür zur Naßzelle eine Übersichtskarte des Landes Sachsen- Anhalt, lila und im Maßstab 1:300.000. Hinten ein Schreibtisch mit verstaubtem Computer, „das ist mein Manko“, sagt Frau Thomann, „ich kann nicht maschineschreiben“. Rechts im Wohnbüro ein Durchgang, der zum Schlafzimmer führt. Am Türhaken eine lila Strickjacke und ein Hauskleid. An der Wand eine Liege, bezogen mit lila Bettwäsche, „das ist frauenpolitisch korrekt“. Das Bettlaken, gekauft im Eine-Welt-Laden in Merseburg, auch das ist korrekt. Auf dem Tisch steht noch ein Milram- Frühlingsquark, Lauchstädter- Wasser und Burger Knäckebrot. Auf dem Fußboden vor dem Bett ein Radio. Beate Thomann ist genügsam.

Hier sei nun folgendes erklärt: Beate Thomann aus Merseburg ist seit 1994 Abgeordnete im Landtag. Wenn Landtags-, Fraktions- oder Ausschußsitzungen sind, diese keine Ende finden – und meist finden diese kein Ende – und wenn am nächsten Morgen wieder irgendeine Sitzung ansteht, dann fährt Frau Thomann nicht zurück in ihre Heimatstadt Merseburg, schläft sie nicht im Hotel, was die Landtagsverwaltung durchaus bezahlen würde, einige Abgeordnete nehmen das Angebot gern in Anspruch; nein, Frau Thomann schläft im Landtagsgebäude – so, wie es 50 der 99 Abgeordneten aller Fraktionen tun.

Sie tun das, weil Schlafen im eigenen Haus nichts kostet. Weil doch gespart werden muß im Lande. Und wahrscheinlich auch, weil ein Stück Ostmentalität gewahrt werden soll.

Das Landtagsgebäude war zu DDR-Zeiten eine Ingenieurschule für Wasserwirtschaft, hatte kleine Wohneinheiten, vorwiegend im Nordflügel. Diese Wohneinheiten mit Naßzellen gibt es noch immer, 70 insgesamt. Sie sind heute die Büros der Abgeordneten. Hier übernachten zu können sei praktisch, sagt Frau Thomann. Nicht komfortabel, nein, einfach praktisch, nach der Sitzung ins Büro gehen zu können. Reden schreiben für den nächsten Tag. Post erledigen. Telefonate führen – in Ruhe und auch mal ausführlicher mit den Leuten sprechen. Gut, sagt Frau Thomann, mit Erholung habe das nichts tun, „wenn man vom Schreibtisch direkt ins Bett fällt“. Erholung wäre es aber auch nicht, „wenn ich abends nach Hause fahren müßte“. Der letzte Zug fährt um 22.36 Uhr ab Magdeburg und nur bis Halle, ohne Anschluß nach Merseburg. Ein Taxi von Halle nach Merseburg kostet 40 Mark. Da nützt auch die Wegstreckenentschädigung nicht viel. 950 Mark bekommt Frau Thomann. Der Betrag ist von der Entfernung zum Wohnort abhängig.

An dieser Stelle tritt der Landtagspräsident Dr. Klaus Keitel auf. Er hat den „Weitwohnern“ – so werden jene genannt, die aufgrund der Entfernungen zwischen den Sitzungstagen in Magdeburg übernachten – vor kurzem einen Brief geschrieben. Von „Defiziten in der Abwehr von Brandgefahren“ war da die Rede. Seitdem darf im Nordflügel nicht mehr geraucht werden. „Ein Disziplinierungsversuch“, urteilt ein PDSler. Eine weitere Anweisung der Landtagsverwaltung: an- und abmelden beim Pförtner. Damit, im Notfall, die Feuerwehr weiß, wer im Hause ist. Ein paar Rauchmelder mehr wurden aufgehängt. Am liebsten aber sähe Keitel es, wenn gar nicht mehr geschlafen würde im Landtagsgebäude. Aus Sicherheitsgründen. Denn der Nordflügel ist noch nicht saniert. Die Fenster sind marode. Die Türen sind marode. Die Wasserleitungen sind marode. Die Brandschutzbestimmungen, wir wissen es schon, sind nicht erfüllt.

Daß der Nordflügel saniert werden muß, darin sind sich die Landtagsabgeordneten einig. Vielleicht wird das 1999 passieren. Keiner weiß so genau, wann es Geld gibt. Keitel plädiert für eine Sanierung ohne Übernachtungsmöglichkeiten. Mehr Büroraum könnte dadurch entstehen. Die Arbeitsbedingungen wären dann endlich eines Abgeordneten würdig. Die Abgeordneten, so die Vorstellungen der Landtagsverwaltung, sollen zukünftig in Hotels schlafen. Dafür sollen mit örtlichen Häusern Sonderkonditionen ausgehandelt werden. Das Konzept zur Sanierung des Nordflügels wird derzeit von der Landtagsverwaltung erarbeitet.

An einem anderen Konzept feilt die Arbeitsgruppe Bau, in der Abgeordnete aus allen Fraktionen sitzen. Tilmann Tögel (SPD) sagt: „Wir sind für den Erhalt der Schlafplätze im Gebäude. Die sollen nicht komfortabel sein. Nur eine kleine Naßzelle muß sein. Mir reicht zum Beispiel ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Regal bis zur Decke.“ Das Konzept der Arbeitsgruppe Bau werde in diese Richtung plädieren. Was teurer kommt? Die Sanierung des Nordflügels mit Übernachtungsmöglichkeiten oder: die Abgeordneten in Hotels unterzubringen? Die Frage ist nicht geklärt.

Es ist zwanzig Minuten nach Mitternacht. Beate Thomann hat das Licht längst ausgeknipst. Cornelius Nägler, der CDU- Platzhirsch aus Querfurt, wandert durch den kahlen Landtagsflur, vorbei an Thomanns Tür, hin zu seinem Zimmer, C3 - 08. Er kommt vom Parlamentarischen Abend. Er hat gut gegessen und gut getrunken. Er bleibt stehen vor seiner Zimmertür, an der ein Aufkleber des Sportvereins Harz-Börde e.V. prangt. Im Zimmer lehnen zwei Bilder aus der Heimat an der Wand: ein Wald, ein Dorf. Ansonsten ist nichts Erwähnenswertes zu sehen. Das Schlafzimmer nebenan ist spärlich eingerichtet. Ein Bett in der Ecke. Weißes Spanntuch, geblümte Wäsche. Im Regal ein Karton Freyburger Rotwein, Jahrgang 1993, „ich bin im Aufsichtsrat der Winzervereinigung“. Zwei Parfümfläschchen im Regal, ein paar Akten. Im unteren Fach liegen Badelatschen und Pantoffeln. Auf dem Schreibtisch ein Radio mit Bildschirm. Ein Kalender. Wenig Papiere. Herr Nägler, drückt sich ein Landtagskollege vorsichtig aus, ist im Landtag nicht so aktiv.

Herr Nägler weiß das selbst. Er hat sein Prinzip, das da heißt: „Ich helfe meinen Nächsten, und die Nächsten sind im Wahlkreis.“ Sein Wahlkreis ist Querfurt und Umgebung. „Da bin ich der Platzhirsch.“ Es klingt selbstverständlich. „Die Frau Thomann“, sagt Nägler noch, „die wirbelt da auch manchmal rum. Aber die Frau Thomann ist keine Gefahr.“ Er, der Platzhirsch von der CDU, hat das Sagen in der Gegend. Er ist überall. Er macht alles. Behinderten helfen. Investoren gewinnen. Die Arbeitslosenquote (über 20 Prozent) drücken. „Ein täglicher Kampf“ in dieser ländlichen Region. Näglers Terminkalender ist voll. Grußwort bei der Dankeschönveranstaltung der Pfingstburschenschaft in Querfurt. Gemeindekirchenfest. „Da spiele ich die Orgel.“ Einweihung einer Behindertenwerkstatt. Und zwischendurch seinen 61. Geburtstag feiern.

„Ich bin nicht verwöhnt. Ich bin nicht dafür, daß wir teure Hotelzimmer nutzen. Ich sehe in den Übernachtungsplätzen im Landtag eine Möglichkeit zum Sparen. Wir als Abgeordnete müssen in Zeiten, in denen alle sparen müssen, Vorbildwirkung haben.“ Herr Nägler schaut durch das Zimmer, schaut an leere Wände, wiederholt seine Ich-Sätze und erzählt noch die Geschichte von Kriegszeiten. Wie sich seine Familie mit zwei anderen eine Einraumwohnung geteilt hat. Wie man auch damit zurechtgekommen sei. Warum also sollte er nörgeln? Und warum will der Herr Landtagspräsident diese günstigen Übernachtungsmöglichkeiten abschaffen?

Nägler ist müde. Läßt sich ins Bett fallen. Morgen geht die Landtagssitzung weiter. Nägler wird zu spät kommen.

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