: Gefälschte Doktrin
Die Freiheit der Rede ist wesentlicher als die Demokratie selbst. Zur Diskussion über asiatische Werte und den Ruf nach Zensur in demokratischen Systemen. China versucht sich an einer Generalverteidigung despotischer Prinzipien ■ Von Ronald Dworkin
Als Index on Censorship aus der Taufe gehoben wurde, bestanden die meisten Verletzungen der Meinungsfreiheit im brutalen, direkten Zugriff: überall auf der Welt kontrollierten Diktatoren und Militärregime die Presse und erstickten jede unabhängige Rede. Im Laufe der letzten zehn Jahre, als demokratische Bewegungen – zumindest in ihren Anfängen und oft in überraschend vitaler Form – die Tyranneien Rußlands, Osteuropas, Südafrikas und Südamerikas stürzten, schien diese brutale Form der Zensur überwunden, und viele von uns haben den weniger simplen, komplizierteren Aspekten der freien Rede zunehmend mehr Aufmerksamkeit geschenkt.
In früheren Index-Artikeln habe ich mich mit einigen der neuen Gefahren beschäftigt, die sich nicht etwa in faschistischen oder theokratischen Diktaturen, sondern in demokratischen Gesellschaften ergaben, die prinzipiell natürlich für die Redefreiheit sind. Da waren u. a. feministische Gruppen in den USA, die Kampagnen für eine Zensur explizit sexueller Literatur und Filme geführt haben. Ihr Argument war beispielsweise, daß solches Material Frauen „zum Schweigen bringt“ und daher ihre Bereitschaft schmälere, sich am politischen Diskurs zu beteiligen, an dem sie in jedem Fall weniger effektiv teilnehmen könnten. Einige demokratische Staaten haben Gesetze und „Sprach-Codes“ erlassen, die rassistische oder andere Formen verabscheuungswürdiger Hetze zensieren. Nach deutschem Recht ist es beispielsweise ein Vergehen, die Tatsache des Holocaust zu leugnen.
Solche Kampagnen und Gesetze, schrieb ich damals, seien für westliche Demokratien besonders attraktiv, weil sie eine Zensur nicht zugunsten der Mächtigen, sondern der Schwächeren fordern, zugunsten also nicht einer Ungerechtigkeit, sondern einer Forderung nach Gleichheit geführt werden. Dennoch war und bin ich der Auffassung, daß man sie bekämpfen muß. Denn wenn wir die Freiheit der Rede für solche uns unsympathischen Auffassungen versagen, schwächen wir die Legimation unseres gesamten politischen Systems und besonders genau der Gesetze, die wir zum Schutz der Opfer von Stereotypisierung und Vorurteil erlassen haben. Es ist von entscheidender Bedeutung, sich solchen attraktiven, aber gefährlichen Ausnahmen unseres fundamentalen Engagements für die freie Rede zu widersetzen.
Während das Heft zum 25. Geburtstag von Index in Druck geht, sind wir allerdings wieder dramatisch daran erinnert worden, daß die alten, brutalen, unkomplizierten Formen der Zensur in vielen Teilen der Welt immer noch Alltag sind. Auf dem Pekinger Tiananmen-Platz fanden im Juni 1989 Demonstrationen statt, die von Soldaten blutig niedergeschlagen wurden, wobei Hunderte von Demonstranten ums Leben kamen. Danach führte die britische Administration in Hongkong eine Serie von Bürgerrechtsgesetzen ein, beispielsweise das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Versammlungsrecht. Die Volksrepublik China hat jedoch klargemacht, daß diese Gesetze nach der Übernahme Hongkongs am 1. Juli 1997 wieder zurückgenommen werden, Hongkong also den chinesischen Prinzipien einer generellen Mißachtung grundsätzlicher Menschenrechte unterworfen sein wird.
In einer am 9. April veröffentlichten Erklärung von Tung Chee- hwa, einem ehemaligen Großreeder, der als Hongkongs erster Administrator unter Peking dienen wird, heißt es, Hongkong sei „durch äußere Kräfte extrem verwundbar“ und daß die neue Regierung „einen Ausgleich finden (müsse) zwischen Bürgerrechten und gesellschaftlicher Stabilität, Persönlichkeitsrechten und gesellschaftlichen Ansprüchen, zwischen den Interessen des Individuums und der öffentlichen Wohlfahrt“.
„Ausgleich“ ist nur ein Code für „Verweigerung“: Das Recht auf freie Meinungsäußerung, das mit einer Riesenliste anderer angeblicher Werte harmonisiert werden muß, ist ein Recht, das nur dann ausgeübt werden kann, wenn es Herrschenden ungefährlich ist. Der Zynismus dieser von Tung eingenommenen Position wird noch deutlicher, wenn wir uns die Liste der angeblich konkurrierenden Werte anschauen.
Wir wissen, warum er seine Rechtfertigung mit einem Hinweis auf die „äußeren Kräfte“ einleitet. Selbst Demokratien, die großen Wert auf die Freiheit der Rede legen, akzeptieren, daß Freiheit nicht absolut gesetzt werden kann, – und die häufigste und plausibelste Begründung für ihre Einschränkung ist eine militärische Bedrohung von außen. Regierungen dürfen zu Recht die Veröffentlichung militärischer Geheimnisse im Krieg bestrafen. Hongkong jedoch wird weder zur Zeit noch in absehbarer Zukunft militärisch von außen bedroht, nicht von Taiwan und von nirgendwo sonst. Die äußeren Kräfte, an die Tung denkt, sind der politische und möglicherweise ökonomische Druck, der die Beachtung der Menschenrechte in der Volksrepublik erzwingen soll. Insofern argumentiert er hier – einigermaßen paradox –, daß die Einschränkung der Meinungsfreiheit nötig sei, um äußeren Druck zu verhindern, der den Mangel genau dieser Freiheit in China kritisiert.
Er argumentiert weiter, daß das Recht der freien Rede abgewogen werden muß gegen Persönlichkeitsrechte und die Rechte des Individuums. Auch das ist ein in Demokratien anerkannter Gedankengang: nämlich als Rechtfertigung für Verleumdungsklagen, die einzelnen erlaubt, vor Gericht zu gehen, wenn sie meinen, jemand habe rufschädigende Lügen über sie verbreitet. (Auch in demokratischen Gesellschaften sorgen wir uns, daß solche Gesetze die politische Meinungsfreiheit behindern könnten, und in den Vereinigten Staaten sind die Klagemöglichkeiten für Beamte und Politiker aus diesen Gründen drastisch beschränkt.)
Tungs Verweis auf die Rechte des Individuums ist ebenso zynisch wie der auf äußere Gefahren. Schließlich erlaubt er weder eine freie Presse oder freie Demonstrationen, noch gibt er einzelnen Individuen die Möglichkeit, sich gerichtlich gegen Rufmord zu wehren. Vielmehr ist seine Entscheidung darüber, was publiziert oder gesagt werden darf, eine politische. Und auf die Möglichkeit falscher oder rufschädigender Aussagen über einzelne Bürger weist er nur hin, um damit das pauschale Verbot aller Aussagen zu rechtfertigen.
Tungs Bezugnahme auf traditionelle Rechtfertigungen zur Einschränkung der Redefreiheit – Bedrohung von außen und Persönlichkeitsrechte – ist reine Verschleierung, und seine wahren Gründe erscheinen nur dann auf der Bildfläche, wenn wir diese ignorieren und uns den anderen, ebenfalls von ihm genannten Gründen zuwenden.
Es ist unter Asiens Politikern, denen das Konzept der Menschenrechte nicht paßt, üblich geworden, an die Relativität kultureller Werte zu erinnern. Und dieser Relativismus ist leider auch an den Universitäten des Westens beliebt geworden.
Da wird dann behauptet, das Wertesystem asiatischer Gesellschaften betone die Rechte des Individuums nicht in gleicher Weise, wie das westliche Wertesysteme täten – weshalb dieser Versuch westlicher Regierungen, sie zur Aufgabe ihres kulturellen Erbes als Preis für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu bewegen, nichts anderes sei als kultureller Imperialismus.
Diese Stimmung ist es, auf die Tung mit seinem Verweis auf Stabilität, gesellschaftliche Pflicht und öffentliche Wohlfahrt rechnet. Er will damit sagen, daß asiatische Werte weniger selbstbezogen und individualistisch seien als westliche und daß man bei ihnen vielmehr die damit in Konkurrenz stehenden Werte der Kollektivität und Verantwortlichkeit betone.
Das Konzept der asiatischen Werte ist an sich schon eine Fälschung: die Völker Asiens sind kulturell sehr unterschiedlich, und jede Nation kombiniert auf ihre Weise eine Vielzahl ethischer Traditionen miteinander, wobei sich selbige enorm voneinander unterscheiden können. Wir können Tungs Behauptungen – und die Generalverteidigung despotischer Prinzipien, die sie in Wirklichkeit sind – überprüfen, indem wir fragen, welche anderen „westlichen“ Werte neben dem angeblich so selbstbezogenen Individualismus noch als kulturell relativ verworfen werden sollen.
Der erste dieser Werte ist natürlich das demokratische Prinzip selbst, d. h. die Regierung des Volkes durch das Volk. Die Idee der Selbstregierung kann man kaum als individualistisch oder egoistisch bezeichnen. Vielmehr setzt sie voraus, daß eine politische Gemeinschaft in einer Art Partnerschaft agiert, in der jeder einzelne Bürger ein gewisses Maß Verantwortung für kollektive Entscheidungen akzeptiert. Und daß dieses Ideal nur realisiert werden kann, wenn alle Bürger zur Partizipation an der Regierung als Gleiche geladen sind, was heißt, daß niemandem in der kollektiven Diskussionen die Rede verweigert werden kann, nur weil seine oder ihre Vorstellungen für andere unakzeptabel oder gefährlich sind.
Vermutlich würden Tung und seine Kollegen allerdings auch die so verstandene demokratische Idee als eine von vielen westlichen Obsessionen verwerfen. China als Ganzes, so würden sie vielleicht sagen, hat nicht genug Erfahrung mit der Idee der Selbstregierung. Deshalb sei es nicht ratsam, in diesem kritischen historischen Augenblick seiner Transformation zu einer international konkurrenzfähigen Wirtschaft mit der westlichen Form von Demokratie zu experimentieren. Wenn man neue politische Parteien zuließe, würden die womöglich die vernünftige und notwendige Forderung der Regierung nach Opfern, die eben gebracht werden müssen, verweigern und damit auf Stimmenfang gehen bei Leuten, die zu politischen Urteilen unfähig seien. Das ist ein erschreckendes Argument.
Und es geht zudem am Wesentlichen vorbei: daß die Freiheit der Rede wesentlich ist nicht nur für die von uns bevorzugte demokratische Regierungsform, sondern viel grundsätzlicher noch, da jede Regierung tyrannisch ist, die nicht ganz allgemein wenigstens die informelle Zustimmung der Regierten genießt.
Es könnte ja durchaus sein, wie Chinas politische Führung behauptet, daß das chinesische Volk die Notwendigkeit einer starken, effektiven Regierung bejaht, die ihre Nation transformiert, und deshalb akzeptiert, daß es in seiner Mehrheit von Zeit zu Zeit zu unklugen Entscheidungen tendiert und den teuren und Uneinigkeit hervorrufenden Apparat konkurrierender politischer Parteien und regelmäßiger freier Wahlen nicht wünscht. Viele Menschen haben es schließlich oft lieber, daß jemand anderes harte Entscheidungen für sie trifft. So lange diese Behauptungen jedoch nicht überprüft werden können, bleiben sie leeres Gerede und eine Beleidigung für das Volk. Und sie können nicht überprüft werden, solange jeder, der das Gegenteil behauptet, ins Gefängnis geworfen, gefoltert oder umgebracht wird. Die Freiheit der Rede ist sogar wesentlicher als die Demokratie selbst. Denn auch für eine Abstimmung aller, daß Demokratie nicht gut für sie sei, muß sie gewährleistet werden.
Hierauf müssen wir immer wieder bestehen und hinweisen, sobald uns die „asiatischen Werte“ der kollektiven Pflicht und gesellschaftlichen Verantwortung als Rechtfertigung für Zensur vorgehalten werden. Die Freiheit der Rede ist für die meisten Menschen innerhalb ihres Lebensradius von geringer Bedeutung und hat mit Egoismus nichts zu tun. Jedoch ist sie unverzichtbar für die fundamentalste gesellschaftliche Verantwortung eines Volkes: die Verantwortung nämlich, gemeinsam und selber zu entscheiden – wenn nicht in formalen Wahlen, so in staatsbürgerlicher Akklamation –, welches ihre kollektiven politischen Werte wirklich sind.
Ronald Dworkin ist Juraprofessor an der Universität von Oxford.
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