: Der Prozeß als „moralische Anstalt“
■ Die Verhandlungsführung des Richters rehabilitierte die Justiz nach der Seifenoper des O.J.-Simpson-Verfahrens
Nicht nur über Schuld oder Unschuld von Timothy McVeigh verhandelte das Gericht in Denver. Nein, es ging auch um das Ansehen der amerikanischen Justiz insgesamt. Dieser Prozeß stand im Schatten des O.J.-Simpson-Verfahrens, das als ein Tiefpunkt amerikanischer Rechtsgeschichte gilt.
Das öffentliche Interesse jetzt konzentrierte sich weniger auf den Angeklagten, seine Motive, sein Umfeld und dessen Ideologie als auf die straffe und effiziente Verhandlungsführung von Bundesrichter Richard Matsch – und die brillante Anklagevertretung von Bundesanwalt Hartzler. Richter Ito hatte durch seine Verhandlungsführung im Simpson-Prozeß die Justiz auf die Rolle als Veranstalterin von Amerikas populärster Seifenoper reduziert, Anklägerin Marcia Clark die Verurteilung des weithin für des Doppelmords für schuldig gehaltenen Simpson nicht erreicht.
Welch ein Gegensatz zum jetzigen Prozeß. Richter Matsch hatte zum Leidwesen der Medien Live- Übertragungen aus dem Gerichtssaal untersagt und allen Prozeßbeteiligten eine Schweigepflicht gegenüber der Presse auferlegt. Er wies ferner alle Beweisanträge ab, die nicht unmittelbar mit der Sache zu tun hatten. Dazu gehörten Anträge der Verteidigung, die durch einen Untersuchungsbericht bekanntgewordenen, allgemein skandalösen Zustände in den Labors des FBI zu dokumentieren oder den, durch Ausflüge in die Welt des Terrorismus eine internationale Verschwörung zu konstruieren. Alles unerheblich für diesen speziellen Fall, entschied der Richter.
Verhindern konnte Richter Matsch bei alledem allerdings nicht, daß die Dramaturgie der Verhandlung ästhetischen Kriterien folgte und entsprechend in den Medien aufbereitet wurde. So unterbrach die Staatsanwaltschaft langatmige technische Beweisaufnahmen mit herzzerreißenden Zeugenaussagen von Überlebenden. Tränen und erschütterte Mienen der Geschworenen galten als Plus der Anklage. Auch ohne Kamera im Gerichtssaal richteten sich Anklage und Verteidigung gleichermaßen an Geschworene und – vermittelt durch die Medien – an die Öffentlichkeit.
Über dieses Kleben am Prozeßverkauf selbst versäumte es die Presse ganz, sich jenes Instruments zu bedienen, das sie berühmt gemacht hatte, des investigativen Journalismus. Sie tat nichts, um verbliebene Widersprüche aufzuklären, den Gerüchten nach Querverbindungen McVeighs zur internationalen – besonders zur deutschen rechtsextremen Terrorszene – nachzugehen. Sie tat auch wenig, um die der Welt der Milizen zu beleuchten, deren paranoide Theorien über eine monströse Verschwörung ihrer Regierung zur Unterjochung der Bürger den geistigen Hintergrund dieses Verbrechens abgab.
Letztlich konnte Richter Matsch nicht verhindern, daß in Amerika Gerichte zum neuen Forum gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, zum Staatstheater und zur „moralischen Anstalt“ geworden sind. Sie haben jene Bedeutung angenommen, die im alten Athen die Tragödien hatten und die Schiller dem Theater zuwies. Haben Prozesse doch alles, was ein Drama braucht, um „Furcht und Schrecken“ zu erregen und dadurch die Menschen zu läutern: Protagonisten und Antagonisten, einen positivem oder negativen Helden, ein Stück realen Lebens und in den Geschworenen den Chor, der stellvertretend für die Öffentlichkeit steht, staunt, weint und – urteilt. Daß Gerichte heute in Amerika diese Rolle einnehmen, ist auch als Versagen der Politik zu werten, unter deren Regie die Debatten in den eigentlich dafür vorgesehenen Foren zur unsäglichen Langeweile und Spiegelfechterei verkommen sind. Peter Tautfest
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