Leben in der Injektionshauptstadt

Die britischen Tories haben Schottland aufgegeben. Glasgow stellt gleich mehrere Negativrekorde: die meisten Fälle von Kindesmißbrauch, die geringste Lebenserwartung, die meisten Heroinabhängigen  ■ Von Ralf Sotscheck

„Welcome to Queen Street!“ Das Schild gilt nicht für Ian. Ein Bahnangestellter versucht, den Fünfzehnjährigen vom Seiteneingang des Bahnhofs Queen Street, einem der beiden Fernbahnhöfe Glasgows, zu verscheuchen. Ian läßt sich von der blauen Uniform des schottischen Eisenbahners aber nicht einschüchtern, vielleicht bekommt er auch gar nicht richtig mit, was der Mann von ihm will.

Ian braucht dringend Geld, den letzten Schuß hat er heute morgen gehabt. Und jetzt ist es schon nachmittags. Seine letzte Hoffnung ist der Berufsverkehr, denn dann ist hier viel los: Neben dem Bahnhofseingang in der Dundas Street führen Treppen hinunter zur U-Bahnstation Buchanan Street. Die meisten Pendler müssen an Ian vorbei.

Und an Phil. Der steht an einem Pfeiler und streckt jedem Passanten die Obdachlosenzeitung Big Issue hin. „Das erste Interview mit Sinead O'Connor seit drei Jahren“, preist er das Blatt an. Das ist zwar gelogen, denn die irische Sängerin ist keineswegs pressescheu, aber es nützt dem Verkauf. Die Zeitschrift kostet bloß achtzig Pence, in London muß man das Doppelte dafür berappen. Phil zeigt auf die Ladenzeile gegenüber: links ein Zeitungsladen, rechts nebeneinander zwei Kneipen, in der Mitte ein Haushaltswarengeschäft, das ausgerechnet „Home Comforts“ heißt. Phil lacht. „Ein komfortables Heim habe ich seit sechs Jahren nicht mehr“, sagt er.

Phil und Ian: Ein Leben auf der Straße

Seine Geschichte ist nicht weiter außergewöhnlich: nach elf Jahren Ehe die Scheidung, Auszug aus der Wohnung, Alkohol, Verlust des Jobs. Phil ist 46, an eine feste Wohnung und an einen Job glaubt er nicht mehr. „Will ich auch gar nicht“, sagt er trotzig. „Ich bin allemal besser dran als Ian.“

Dann erzählt er von Ian. Die beiden haben sich angefreundet, wenn man das Freundschaft nennen kann. Wenn Phil viele Zeitschriften verkauft hat, gibt er Ian ein oder zwei Pfund, manchmal kauft er ihm einen Hamburger in der vornehmen Einkaufsstraße mit einer ganzen Passage von Juweliergeschäften, keine zweihundert Meter vom Bahnhof entfernt.

Phil kennt Ians Geschichte. „Er wohnt mit seiner Mutter und drei Geschwistern in der Killearn Street in Possil“, sagt er. „Manchmal taucht der Vater für eine Weile auf. Wenn er aber einen Job hat, ist er verschwunden, bis er die Kohle wieder versoffen hat. Das ist in Possil völlig normal. Mit 14 war für Ian die Schule vorbei. Weil er der Älteste ist, sollte er sich einen Job suchen und zum Familienunterhalt beitragen. Er hat sogar eine Stelle bekommen, im Supermarkt bei sich um die Ecke. Es war das erste Mal, das er Geld in der Tasche hatte. Eine Stunde später war es in der Tasche des Dealers. Drei Wochen hat er den Job danach noch gemacht, dann war's aus.“

In Großbritannien leben mehr Kinder in Armut als in den anderen EU-Ländern. Eurostat, das Statistische Amt der EU, hat in einem bisher unveröffentlichten Bericht festgestellt, daß 3,9 Millionen britische Kinder unter der Armutsgrenze leben. An zweiter Stelle liegt Italien mit 2,2 Millionen. Selbst wenn man es auf die Bevölkerungszahl umrechnet, bleibt Großbritannien mit knapp einem Drittel armer Kinder an erster Stelle vor Irland mit 28 Prozent. Die „Child Poverty Action Group“, eine Initiative zur Bekämpfung der Kinderarmut, hat den Tories vorgeworfen, 18 Jahre lang eine gezielte Strategie der Umverteilung betrieben zu haben. „In dieser Zeit ist das Realeinkommen der untersten zehn Prozent um 13 Prozent gesunken“, sagte eine Sprecherin vor kurzem, „während die oberen zehn Prozent jetzt 65 Prozent mehr haben.“ Ob sich dies Labour ändern werde, sei keineswegs sicher, fügte sie hinzu.

Der Sozialarbeiter: „Wir sind abgeschrieben“

Ian hat sich inzwischen aufgerappelt und klopft den Staub von seiner abgewetzten Cordhose. Er hat genug Geld für einen Schuß und geht in die Bahnhofshalle. Rechts sind die Schaufenster einer Drogerie, links ist der Fahrkartenschalter. Doch der interessiert Ian nicht. Queen Street Station ist ein Kopfbahnhof. Gleis eins liegt etwas abseits, weil die Schienen schon ein Stück weiter vorn aufhören. Ein Elektrozug mit zwei Waggons wartet auf das Abfahrtssignal. Ian muß nach Possilpark. Das sind nur zwei Stationen, die Fahrt dauert zehn Minuten. Wenn er Glück hat, kommt kein Kontrolleur. Sonst muß er eine Fahrkarte für siebzig Pence nachlösen. Diesmal hat er Glück: Der Kontrolleur macht sich gar nicht erst die Mühe, Ian nach seinem Ticket zu fragen.

Der Bahnsteig in Possilpark ist frisch gepflastert, neben den Treppen hat man für beide Fahrtrichtungen neue Zugänge für Rollstühle gebaut. Ian nimmt die Treppe, zwei Stufen auf einmal, und biegt oben nach links in die Balmore Road ab. Er will mich jetzt nicht mehr dabei haben, wenn er seinen Dealer sucht.

Nach ein paar hundert Metern stößt die Balmore Road auf die Saracen Street. Das ist das Zentrum des schottischen Heroinhandels, die Junkies kommen aus dem ganzen Land hier her. Man kann keine drei Schritte gehen, ohne einem zugeknallten Jugendlichen zu begegnen. Manche versuchen, Uhren oder Taschenrechner zu verkaufen, die sie in der Stadt geklaut haben. Es fällt auf, wie wenig Autos auf der Straße parken. Jede Woche tauchen mehr als ein Dutzend gestohlene Autos in der Saracen Street und ihren Seitenstraßen auf, darunter der Killearn Street, wo Ian wohnt. Sämtliche Geschäfte sind gesichert wie Festungen, selbst im Süßwarenladen ist die Kundschaft durch Stahlgitter von der Ware und der Verkäuferin getrennt. Um die Gemüsegärtchen ist Stacheldraht gezogen.

Das war nicht immer so. Die Gießerei in Possil war im vorigen Jahrhundert weltberühmt für ihre Dampfmaschinen: In Kalkutta gibt es heute noch Musikpavillions aus dieser Gießerei. Damals, 1892, wurde auch die Oberschule in Possilpark eröffnet. Hundert Jahre später ist sie von den Tories samt dem dazugehörigen Schwimmbad dichtgemacht worden — zu geringe Schülerzahl, lautete die Begründung. „Mit dem Schwimmbad war das einzige Freizeitangebot in Possil futsch“, sagt Jim, ein Sozialarbeiter. „Ein Drittel der Menschen sind hier arbeitslos, in einem Drittel der Haushalte leben alleinerziehende Eltern, meistens Mütter. Possil hat die schlechtesten Zahlen in Großbritannien für Kindesmißbrauch, Kindersterblichkeit, Lebenserwartung und so weiter. Die Tories hatten Schottland abgeschrieben, lange bevor sie hier ihrer letzten Abgeordneten verlustig gegangen sind.“

Der Polizist: „Keine Ahnung, was zu tun ist“

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat in einem Bericht festgestellt, das Glasgow die „Injektionshauptstadt der Welt“ sei. 1990 hingen etwa 8.500 Menschen an der Nadel, heute sind es weit über 10.000. Wenn man die Zahlen auf Berlin überträgt, dann wären das 50.000 Junkies und 400 Drogentote im Jahr. Autopsien werden im Schnellverfahren erledigt, der Kopf wird dabei nicht geöffnet. „Zu gefährlich“, sagt die Pathologin Marie Cassidy, „gar nicht wegen HIV, sondern wegen Hepatitis C. Man kann leicht die Luft mit dem Erreger verseuchen. Deshalb gehen wir an die Köpfe der Drogentoten nicht heran.“

Die Anti-Drogen-Initiative der Polizei, die vor zwei Jahren mediengerecht die „Operation Adler“ durchgeführt hat, ist verpufft. „Da haben sie eine Diskothek in Airdrie nachts umstellt und sind dann reingestürmt“, erzählt Jim. „Dann haben sie ein bißchen Heroin und eine Menge Temazepam beschlagnahmt, ein paar Leute festgenommen und jede Menge Interviews gegeben.“ Hinter vorgehaltener Hand geben viele Beamte zu, daß die Aktion ein Schlag ins Wasser war, weil die Dealer rechtzeitig von der anrückenden Horde Wind bekommen hatten. Allein in Possil soll es 2.500 Dealer geben.

Inspektor Eddie McColm, der stellvertretende Chef des Drogendezernats in der Region Strathclyde, gibt zu, daß er keine Ahnung hat, wie das Problem zu bewältigen sei. „Wenn ich das wüßte, würde ich es eintüten und weltweit verkaufen“, sagt er. Er setzt auf die nächste Generation. „Keine Eltern haben durchgemacht, was die vierzehn- und fünfzehnjährigen heute durchmachen. Vielleicht dauert es noch fünfzehn oder zwanzig Jahre, bis es Eltern gibt, die wissen, was hier abgeht, und vielleicht helfen können.“

Ian bleibt an dem Tag verschwunden. Auch Phil hat den Verkaufsplatz gewechselt. Erst drei Tage später sitzt Ian wieder neben dem Eingang zum Bahnhof. Ob ich mal fünfzig Pence habe, fragt er und erkennt mich nicht. „Für eine Tasse Kaffee“, sagt er.