Zuerst verschwinden die Flechten

■ Italienische Forscher nutzen Bioindikatoren, um das Krebsrisiko abzuschätzen

Ein Zusammenhang zwischen dem Grad der Luftverschmutzung und der Häufigkeit von Lungenkrebs erscheint jedem Laien plausibel. Unter Wissenschaftlern blieb er bisher umstritten. Die Registrierung vieler unterschiedlicher Schadstoffe mit einem hinreichend dichten Netz von Meßstationen ist technisch aufwendig und wurde daher meist nur in relativ kleinen Gebieten durchgeführt. Entsprechend beschränkt blieben die Schlußfolgerungen. Für eine großräumigere Studie, deren Ergebnisse jetzt im Wissenschaftsmagazin Nature nachzulesen sind, nutzte eine Gruppe italienischer Wissenschaftler Flechten statt technischer Instrumente.

Schon lange ist bekannt, daß diese aus Pilzen und Algen symbiotisch verschmolzene Organismengruppe höchst sensibel auf Umweltgifte reagiert: Je verpesteter die Luft, desto weniger Arten kommen in einer Region vor. Flechten dienen daher als Bioindikatoren für die Luftverschmutzung. In einem mehr als achtzehntausend Quadratkilometer großen Gebiet Norditaliens wurde die Artenvielfalt der Flechten an über sechshundert Meßpunkten registriert. Die erhaltenen Daten verglichen die Forscher mit Angaben des Nationalen Italienischen Instituts für Statistik über die Todesursachen in diesem von vier Millionen Menschen bewohnten Siedlungsraum. Besonders für Männer, die jünger als 55 Jahre sind, ergab sich ein frappierender Zusammenhang: Je weniger Flechten in einem Gebiet vorkamen, desto häufiger war in dieser Altersgruppe der Tod durch Lungenkrebs. Wird die regionale Verteilung der Lungenkrebstoten unter den jüngeren Männern einerseits und die Anzahl der gefundenen Flechtenarten andererseits in Karten des untersuchten Territoriums eingetragen, ergeben sich fast deckungsgleiche Bilder.

Bei älteren Männern dagegen überlagerte die Gefährdung durch Arbeit im Kohlenbergbau zum Teil den Effekt der Luftschadstoffe. Viele von ihnen waren in den fünfziger und sechziger Jahren in belgischen Zechen beschäftigt. Bei Frauen ist Lungenkrebs ohnehin weitaus seltener. Das räumliche Verteilungsmuster ist bei ihnen vor allem durch die unterschiedliche Zahl der Raucherinnen in städtischen und ländlichen Bezirken bestimmt. Auch die kürzlich publizierten Ergebnisse einer Untersuchung in Japan deuten darauf hin, daß zumindest der Luftschadstoff Stickstoffdioxid zu einer erhöhten Sterblichkeit an Lungenkrebs beiträgt. Für den einzelnen ist die Gefahr, durch Luftverschmutzung an Lungenkrebs zu erkranken, zwar relativ gering, errechneten die italienischen Wissenschaftler. Da jedoch von diesem Risikofaktor eine sehr große Anzahl von Menschen betroffen ist, hat er dennoch einen erheblichen Einfluß auf die Zahl der Erkrankungen an diesem bösartigen, bis heute schwer behandelbaren Tumor. Wiebke Rögener