Hurra – das Ende der Volkskirche ist nah!

Die Kirche weiß nicht, was sie sein will: Sozialkonzern oder Verkünderin radikaler Nächstenliebe  ■ Von Reimer Gronemeyer

Der spitzgewölbte Eingang der gotischen Kirche in Norwich, East Anglia, lockt mit pinkfarbener Neonreklame. Der Blick, der zu den alten Fenstern hochgleitet, zeigt Surfbretter, Skateboards, Skiausrüstungen. Die gotischen Fenster sind zu Schaufenstern geworden. In diesem Kultraum befindet sich heute ein Fitneßgeschäft. Im 6. Jahrhundert hat hier im englischen Osten die christliche Mission eingesetzt, früher als im Norden Deutschlands. Und eher als sonst in Europa wird dort nun das Ende der Kirchengeschichte eingeläutet: Dutzende von Kirchen in East Anglia dienen anderen als religiösen Geschäften.

Nichts geht mehr, so scheint es. Weder in East Anglia noch hierzulande. Im Osten Deutschlands gibt es Regionen, in denen weniger als fünf Prozent der Menschen einer Kirche angehören – weniger als zu Zeiten des Erstmissionars Bonifatius, weiß der katholische Bischof Karl Lehmann. Seine Klage über die sterbenden Volkskirchen wird nichts bewirken: Die real existierenden Kirchen sterben aus. Ihre Versuche, sich modern zu geben – von der Online-Beichte bis zur ChurchCard – machen aus Christlichem religiösen Sondermüll.

20 Millionen Deutsche gehören keiner Konfession mehr an: Eine Massenflucht aus der Volkskirche findet seit Jahrzehnten statt. Nun werden die Kirchen Opfer ihrer eigenen Bequemlichkeit. Die Menschen bestrafen Kirche durch Nichtbeachtung, weil sie sie nicht mehr als ihre empfinden.

Der Trend hat eine lange Geschichte. Die Kirche hat es sich stets im Schoß der Mächtigen wohlergehen lassen. Thron und Altar – das ist ein Bogen, der sich von Konstantin bis zu Adolf Hitler spannt, bis zur Kumpanei der Kirchen mit dem Nationalsozialismus. Dem Kommandanten von Treblinka, Franz Stangl, der für 900.000 Morde an Häftlingen verurteilt wurde, verhalf ein katholischer Bischof zur Flucht. Die evangelischen Diakonissen von Neuendettelsau übergaben die ihnen anvertrauten behinderten Menschen wissend an die Vernichtungsaktion T 4 und empörten sich erst, als die Nazis die Neuendettelsau-Immobilien einsacken wollten.

Wieso konnte die Geschichte der Volkskirche eigentlich einfach weitergehen, nachdem christliche Familienväter sich zwischen 1933 und 1945 an die Ausrottung der Verwandten ihres Jesus, ihres Religionsstifters, gemacht haben? Eine „einzige braune Soße“ sei die Kirche gewesen, hat Gollwitzer gesagt. Und das Mitschwimmen darin hat die Volkskirche nicht ruiniert, sondern fett gemacht.

Gleich nach 1945 hat sie sich als geistige Artillerie im Kalten Krieg andienen können. Das Modell „Thron und Altar“ schien 1945 endgültig ausgelaufen – da schob man fix den Altar in die Bonner Lobbies. Man saß schneller wieder in Rundfunksesseln, mauschelte in Ministeretagen und stand als Feldgeistlicher parat, als die Anstandsfrist geboten hätte.

Stirbt die Volkskirche, weil sie nach dem Ende des West-Ost- Konfliktes endgültig nicht mehr gebraucht wird? Verschwindet sie, weil sie in ihrem Kern eine Buchreligion ist, die in der kommenden elektronisch formierten Informationsgesellschaft nur museale Bedeutung haben kann? Oder schafft das ekklesiale Stehaufmännchen noch einmal den Sprung in die globalisierte Marktgesellschaft?

Immerhin: So dürftig die Basis der Kirche geworden ist, so sehr schwillt der Strom neoreligiöser Bewegungen an. Je schneller sich alte Lebensmuster, Werte und Orientierungen verflüchtigen, desto attraktiver scheint esoterischer und fundamentalistischer Eskapismus zu werden. Von der Volkskirche zu Scientology?

In diesen neuen Glaubensbewegungen werden denkfreie Zonen geschaffen, die an die Stelle zerbrechender Identitäten und kollabierender Familien treten und den weltanschaulich heimatlos gewordenen Subjekten ein Zuhause versprechen. Wenn das 21. Jahrhundert auch kein Jahrhundert der Kirchen zu werden verspricht, so könnte es doch überraschenderweise zu einem Jahrhundert der Religionen mutieren. Dann wird man sich womöglich nach der guten alten Volkskirche sehnen, die nicht nur den mörderischen Konstantin und den wüsten Renaissance-Päpsten, sondern auch den heiligen Augustin und den großen Thomas von Aquin hervorgebracht haben.

So gilt beides: Noch nie war die Lage der Volkskirche so aussichtslos wie jetzt. Und niemals zuvor war die Botschaft der Kirche – der Ruf zur radikalen Nächstenliebe – so dringlich wie heute.

Der Widerspruch scheint unauflöslich. Die Industriegesellschaft verfügte – gestützt auf Kirche, Familie und Staat – über einen Wertekanon, der als „Gewissen“ in das Kind hineingetrieben wurde und zur Entstehung dessen führte, was man Charakter (griechisch: „Brandmal“) nennt. Dieser sollte sich in Gehorsam, Ordnung, Fleiß, Treue und Sparsamkeit ausdrücken. Er funktionierte wie ein innerer Kreiselkompaß, den die erfolgreich Sozialisierten in sich trugen. Der Abschied von diesen alten Formen der Innerlichkeit findet gegenwärtig statt und droht die Volkskirche, die im Bündnis mit dieser Innerlichkeit stand, wegzureißen. Die Kirche hat ihre Füße in den Block der Industriegesellschaft einbetoniert und wird von diesem Betonklotz mit auf den Grund gezogen.

Aber die rasche Verwüstung der Sinnkontinente, die nicht nur Kulturpessimisten konstatieren, kann der Kirche vielleicht noch einmal Gehör verschaffen. Wo sonst als in den Räumen der Kirche soll denn noch davon geredet werden, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt? Wo sonst wird noch festgehalten an der Behauptung, daß die Sehnsucht nach Sinn zum Menschen gehört? Kann die Kirche nicht über Nacht zum Wächter über die vom Aussterben bedrohte Innerlichkeit des Menschen werden?

Es wäre eine würdige Nebenrolle, die dabei die Kirchen spielen würden; eine, zu der vor allem der Mut gehörte, die Verhältnisse gegen den Strich zu bürsten. Keine pompöse Rolle, aber eine, die endlich befreit ist von Brokat und Gold, von Macht und Einfluß. Sie würde Dinge sagen können, die zur prophetischen Tradition gehören: Nackt, verdreckt und verzweifelt sind die Propheten einst durch Jerusalem gezogen. Geschniegelte Bischöfe sind die Vergangenheit, nicht die Zukunft der Kirche.

Der Rückgriff auf die Botschaft der Bibel könnte Horizonte aufreißen: In einer Lebenswelt, in der nichts mehr nachgeblieben ist als die Orientierung an Geld, könnte ein einziger Satz aus der Bibel zum Fanal werden: „Eher kommt ein Kamel durchs Nadelöhr als daß ein Reicher in das Himmelreich eingehe“. (Matthäus 19, 24)

Der Schatz ist da, aber kein Christ scheint ihn bergen zu wollen. Statt dessen sind schlüpfrige Anpassungsversuche zu beobachten, in denen die Kirchen krampfhaft versuchen, ihr Überleben unter veränderten Bedingungen zu sichern. Statt theologischer Arbeit wird lieber eine Werbeagentur beauftragt, die die Gläubigen wieder einsammeln soll.

Der aussichtsreichste und zugleich bedenklichste Versuch, die Kirchen in das kommende Jahrhundert hinüberzuretten, besteht natürlich darin, sie zu einem Sozialkonzern umzubauen. Mit 1,2 Millionen Beschäftigten sind die Kirchen der zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland. Längst drängt sich der Verdacht auf, daß die Direktoren von Caritas und Diakonie die wahren Bischöfe sind, die auf vorsichtige Distanz zur Sonntagskirche gehen.

Welch ein Weg ist da bloß zurückgelegt worden vom barmherzigen Samariter bis zur Vermarktung kirchlicher Sozialleistungen unter der verräterischen Überschrift „Ethisches Produkt“! Die Kirche, die nur als sozialer Supermarkt überlebt, würde zum Teil des Marktes. Damit hätte sie sich aufgegeben. Denn der Markt ist ohnehin allmächtig und allgegenwärtig – wie es einmal Gott war.

Die marktorientierte Kirche wäre eine götzendienerische Kirche. Vermutlich stimmt die Aufforderung an den reichen Jüngling, der die ewige Seligkeit will, ja immer noch? „Gehe hin und verkaufe alles, was du hast und schenke es den Armen.“ (Matthäus 19, 21)

Nur eine Kirche, die sich vom überflüssigen Gepäck ihrer Geschäfte trennt und von den Mächtigen fernhält, wird noch bei den Menschen Gehör finden könnte. Das wäre womöglich ein wahrhaft christlicher Beitrag zur Standortdebatte. Leider wissen wir, wie es mit dem reichen Jüngling ausging: Er schlich traurig von dannen.

Reimer Gronemeyer, 1939 in Hamburg geboren, arbeitete zunächst als Pfarrer; seit 1975 ist er Professor für Soziologie an der Uni Gießen. Sein jüngstes Buch heißt „Wozu noch Kirche? – Die Wiedergeburt der Kirche aus dem Geist des Christentums“ (Rowohlt Berlin).