: Zwölf Gäule für eine Schocktherapie
■ Rebellen auf dem Marsch in die Institutionen: Die Weserburg zeigt umfassende Revision der arte povera
Mit zwölf Pferden mischte Jannis Kounellis 1969 den Kunstbetrieb auf. Denn der in Griechenland geborene Wahl-Römer trieb das Dutzend Rösser zur Vernissage in die Galleria L'Attico in Rom. Statt sich für das übliche Geplauder vor einigen Bildern versammeln zu können, waren die AusstellungsbesucherInnen von schnaufenden, mit den Hufen laut auf den Fliesen klackenden Gäulen umgeben. Eine Vernissage als Schock – ein Happening als Kunstwerk: Mit Kounellis Aktion meldeten sich Italiens KünstlerInnen in die Nachkriegswirklichkeit zurück, und ein Mensch mit Weitsicht und kategorischem Verstand, der Kritiker Germano Celant, fand einen Begriff dafür – den Begriff der arte povera, der Kunst mit einfachen oder allen erdenklichen alltäglichen Materialien.
Die Gäule sind tot, der Schock ist verklungen, die Entrüstung verflogen. Nur noch ein paar Fotos und das anekdotisch weitergegebene Wissen bezeugen das Spektakel. Da war etwas, damals in Italien, eine Rebellion in und mit der Kunst, die ins jubiläumsfähige Alter gekommen ist. Grund genug für eine Revision, zumal der Begriff arte povera selbst im abgelegenen Bremen einen magischen Klang hat, ohne daß diese „arme Kunst“hier wie auch in den meisten anderen Städten nördlich der Alpen jemals in größerem Umfang zu sehen war. Mit Unterstützung einer Bank galoppiert das Neue Museum Weserburg jetzt genau in diese Bildungslücke und präsentiert in drei Ausstellungsräumen einen repräsentativen, von 1959 bis 1985 reichenden Querschnitt durch eine Kunstströmung, deren Vertreter den Betrieb eigentlich meiden und aufmischen wollten.
„Es kommt mir so vor, als hätten meine Werke keinerlei Zukunft, als erschöpften sie sich im selben Moment, in dem sie entstehen“, wird Giulio Paolini in der Einleitung des Katalogbuches zitiert. Und im Vorwort des Katalogs zur ersten großen arte-povera-Ausstellung in Deutschland – 1971 in München – heißt es idealistisch: Diese Künstler wollten sich aus dem Kulturbetrieb lösen. „Objekte und Aktionen wurden außerhalb von Galerien und Museen gemacht. Der Wille, solche Objekte zu besitzen, ist ein Mißverständnis. Die Faszination oder das Verstehen ist der einzige Weg der Inbesitznahme.“
Allein Ingvild Goetz mochte dem schon damals nicht glauben. Denn während in München auf paradoxe Weise die Rebellion beschworen wurde, holte sie die arte-povera-Künstler in ihre Züricher und bald nach München verlegte Galerie und stellte sie abwechselnd mit Vertretern anderer neuer Strömungen wie Land, Konzept oder Minimal Art aus. Bald begann Ingvild Goetz zu sammeln und behielt – der Leidenschaft dieser Spezies gemäß – die schönsten und wichtigsten Werke für sich.
Und sie hat Recht behalten, wie sich anno 1997 in der Ausstellung ihrer Sammlung in der Weserburg zeigt. Denn Paolinis zeichnerische Versuche über die Perspektive oder seine Installationen sind so museumsreif geworden wie die Iglus und Leuchtröhren seines arte-povera-Kollegen Mario Merz oder die weit über die Pferdeaktion hinausgehende Kunst Jannis Kounellis. Und mit dem Abstand von 30 Jahren werden die Gründe deutlich.
Denn bei den arte-povera-Künstlern muß es sich um besonders intelligente Rebellen gehandelt haben. Neben dem längst vertraut gewordenen poetisch-ästhetischen „Wert“, den wir in einem Iglu von Merz, in einem weißen – und nicht nur weißen – Bild Luciano Fabros zu sehen gelernt haben, wimmelt diese arte povera vor Einfällen: Da werden Anleihen an die Antike genommen oder Aussagen über das Bildermachen gesetzt, daß sich die Revision zu einem geistigen Abenteuer entwickelt. ck
arte povera, bis 7. September im Neuen Museum Weserburg; Eröffnung am Sonntag, 22. Juni, 17 Uhr
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