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Schuldfrage wurmt

■ Kirchentag: 3.000 Menschen kamen zur Diskussion mit Ex-SEDlern und Bürgerrechtlern: "Ist Versöhnung möglich?"

Leipzig (taz) – Der junge Mann war nicht mehr zu halten. Mutig stürmte er in den Mikrophonwald des Podiums, ergriff gleich das erstbeste und sprach: „Jetzt müssen auch die Betroffenen mal sprechen.“ Zweieinhalb Stunden lang war es nur Experten vorbehalten, über einen der thematischen Evergreens aller Kirchentage zu sprechen: Versöhnung. Doch dies würde nicht erklären, weshalb 3.000 Menschen speziell zu dieser Diskussion auf dem alten Messegelände Leipzigs gekommen waren. „Ist Versöhnung möglich?“ sollte ein deutsch-deutsches Selbstgespräch werden: „Sieben Jahre danach“, hieß es im Programm.

Die Veranstaltung hatte schon im Vorfeld des Kirchentags für Furore gesorgt: Darf ein Mann wie Roland Wötzel, vor der Wende SED-Bezirksleiter in Leipzig und jetzt als Rechtsanwalt tätig, überhaupt teilnehmen? Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe, jetzt Studienleiterin und somit Gewinnerin der politisches Implosion ihres früheren Landes DDR, wollte zunächst deswegen nicht kommen. Bürgerrechtler aus Leipzig, die sich als solche heute noch verstehen, hatten ihr dringend nahegelegt, Wötzels Teilnahme per Nichtteilnahme abzustrafen. Es bedurfte der Überredungskunst des früheren Bundesverfassungspräsidenten und Kirchentagsprominenten Erich Benda, daß sie schließlich nicht kniff: Es schicke sich nicht, ließ man seitens des Kirchentagspräsidiums mitteilen, eine Einladung zu einem christlichen Forum auszuschlagen.

Trotzdem war es eigentlich kein Gespräch über Ost und West, sondern eines über den Osten und seine Befindlichkeiten. Ulrike Poppe wies zunächst darauf hin, daß eine Aussöhnung überhaupt erst möglich werde, wenn zuvor klar benannt worden sei, wer der „Vogel“ gewesen sei und wer der „Käfig“. Ihr komme es vor allem darauf an, daß die alten Machteliten der DDR, kaum zu Bundesbürgern geworden, nicht schon wieder zu Einfluß kämen. Wötzel erwiderte in einer Form, die der sachsen-anhaltinische Ministerpräsident Reinhard Höppner als klassisch-demütige Selbstkritik bezeichnete.

Das muß Wötzel vorausgesehen haben: „Mein Problem ist doch, daß, gebe ich zuviel zu, ich als Wendehals gelte.“ Tue er dies nicht, zöge er sich das Verdikt zu, als uneinsichtig zu gelten. Soviel stehe aber fest: „Ich blicke zurück mit Trauer und Zorn.“ Und: „Ich habe den Bedrängten und Bedrückten in der DDR nicht geholfen“ – nicht aus Schwäche, sondern aus Überzeugung, daß sein Land der „bessere Teil Deutschlands“ war.

Doch auch wenn er dies sage und ehrlichen Herzens bekenne, wisse er nicht, wie eine Versöhnung überhaupt konkret vonstatten gehen sollte. Deshalb seien für ihn drei Fragen entscheidend: „Was sollen wir tun? Was können wir hoffen? Was sollen wir sein?“

Höppner, der sich immer stärker als gütiger Landeskurator aller bitteren DDR-Gefühle zu profilieren scheint, meinte, daß „große öffentliche Bekenntnisse nichts bringen“. Er könne doch nun nicht verlangen, daß „jemand seine Überzeugungen über Bord schmeißt“. Es sei nach der Wende ein Fehler gewesen, die Suche nach der Wahrheit und die nach den Schuldigen zu vermischen: ein weiser Satz, der prompt viel Beifall bekam.

Die Schuldfrage müsse weiter geklärt werden, wo es „um Verbrechen ging“, aber die „Wahrheit“ sei doch, daß fast alle in das System DDR verstrickt gewesen seien. Ergo: „Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.“

Egon Bahr zog sich den Zorn vieler Zuhörer zu, als er davor warnte, eine „rein ostdeutsche Diskussion über Versöhnung“ zuführen: „Das führt doch nur dazu, daß die innere Einheit weiter in die Ferne rückt.“ Ihm assistierte John de Gruchy aus Südafrika, ein weißer Religionswissenschaftler: „Versöhnung ist nicht politisch naiv, aber sie bedeutet, daß man gemeinsame Interessen findet“, ohne die alten Konflikte zu verdrängen. Mit diesem Statement war der Stand der innerdeutschen Diskussion um die Phantomschmerzen der Wiedervereinigung abgezirkelt – weiter ging es nicht: Die Beifallsbekundungen und die Intervention des jungen Mannes am Schluß der Veranstaltung bezeugten, daß letztlich jeder wahrnimmt, was er wahrnehmen will.

Ulrike Poppe, die wie viele Bürgerrechtler so wirkte, als fürchtete sie, daß irgendwann einmal das Thema Versöhnung als erfolgreich abgeschlossen zu den Akten gelegt wird, meinte am Ende lapidar zu Egon Bahr, der sich gegen eine Gleichsetzung der DDR mit dem NS-Staat wandte („Die Nazis hinterließen einen Berg von Leichen, die DDR einen Berg von Akten“): „Hinter diesen Akten verbergen sich Schicksale.“ Sie erhielt den größten Applaus des Abends. Jan Feddersen

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