: Allerhand todsichere Bizarrerien
■ „Oh what fun – oh what a nightmare!“ Der Krimiautor William Marshall freut sich schon auf die Übergabe Hongkongs an China. Wo bleibt die Gesamtedition?
Der maschinelle Massenausstoß von kriminalliteratursuspekten Texten hat auch die fatale Folge, daß man den Plunder nur noch grob nach Themen sortieren mag: Lustmörder, Präsidenten, Städte. Aus gegebenem politischem Anlaß sind gerade Romane interessant, die in Hongkong spielen. Die heißen dann „Hongkong-Thriller“ und können unter diesem Schlagwort abgelegt werden.
Manchmal haben solche albernen Konjunkturwellen sogar eine gute Nebenwirkung: Seit genau 25 Jahren sehen sich Harry Feiffer, Christopher O'Yee, Bill Spencer und Phil Auden, Kriminalbeamte des „Yellowthread Street“-Reviers der Royal Hong Kong Police, mit unglaublichen Vorfällen und bizarren Delirien konfrontiert: mit Leichen, die aus fremden Körperteilen zusammengestückelt sind, einem Astronauten, der mit einem Flammenwerfer mordet, einer Riesenkatze, die Polizisten mit Pfeil und Bogen erlegt, einem Killer, der die Tiere eines ganzen Zoos abschlachtet, japanischen Soldaten, die 1992 die Kronkolonie angreifen, aber allesamt schon 1943 gestorben sind – um nur ein paar ausgewählte Beispiele aus der deutlich pyromanen und abgedrehten Phantasie des australischen Schriftstellers William Marhsall zu zitieren.
1972 entstand der erste Roman aus der Serie mit dem programmatischen Titel „Yellowthread Street“, gerade ist in den USA der 15. erschienen: „Nightmare Syndrome“.
Die Übergabe Hongkongs an die Volksrepublik China wird nicht das Ende des Projekts bedeuten. Feiffer und Co. werden neue Dienstherren haben, und die daraus todsicher resultierenden neuen Bizarrerieren kommentiert Marshall vorfreudig erregt mit den Worten: „Oh what fun – oh what a nightmare!“
„Nightmare“ und „fun“ sind die Eckwerte, zwischen denen Marshalls Romane hin- und herpendeln, wobei letztlich der Ausschlag eher zu „nightmare“ geht. Die heitere Absurdität – wie zum Beispiel die Trainingsusancen der Sportpistolenschützenmannschaft einer obskuren Bank, bei der die Sprintfähigkeiten eines nepalesischen Sherpas eine wesentliche Rolle spielen und deren kriminalpolizeiliche Bearbeitung Marshall sprachlich als mittelalterliche Aventiure inszeniert – ist eine Sache. Sie kann aber die Tragödie eines verwirrten Kindes und die schrecklichen Tiermorde in dem Roman „Froschmann“ nicht tilgen, sondern nur durch Konterkarierung verschärfen.
Das Geheimnis der ächzenden, brüllenden und kreischenden Wände des Polizeireviers, die im gleichen Roman den armen O'Yee zum Wahnsinn treiben (und die eine kleine Geschichte des Horrorfilms als Subtext haben), dient durchaus nicht als Scherz und Frohsinn, sondern zeigt dank Marshalls meisterhafter Technik der Handlungsführung direkt ins Zentrum eines absolut grausigen Szenarios.
Marshalls spürbare Freude an Klamauk, sein präzises Timing für eine Reihe klassisch gewordener Running Gags (der durchgeknallte Ofen in „Das Skelett auf dem Floß“ etwa oder die sich selbst entzündenden Postkarten in „Postlagernd Jenseits“), das händeklatschende Entzücken an Explosionsspektakeln (kaum ein Roman, in dem nicht irgend etwas krachend in die Luft fliegt, nach „Bombengrüße aus Hongkong“ oder „Hongkong Roadshow“ ist es ein Wunder, daß die Stadt noch steht!) bleiben bei aller Komik nie auf der Ebene des nur schrillen Effekts.
Das hat wesentlich mit den schriftstellerischen Qualitäten von Marshall zu tun. Die Romane sind durchgehend „klassische“ Kriminalromane mit der „klassischen“ Frage, welche Ratio hinter den jeweiligen Ungeheuerlichkeiten stecken mag. Das Rätsel ist jeweils am Ende gelöst, aber bis dahin inszeniert Marshall, wie niemand zuvor, beinahe jede Szene, passagenweise jeden Abschnitt als eigenes Rätsel. Unaufmerksames Lesen rächt sich, man fliegt aus der Handlung oder verpaßt entscheidende Wendungen. Seine Prosa ist ein virtuoses Stakkato von Tempo, Gleichzeitigkeit, Vielstimmigkeit und rasenden Perspektivwechseln.
Selbst von Wort zu Wort kann sich der Erzähler ändern. Mit versteckten und offenen Anspielungen auf alles – von Shakespeare, englischen Romantikern bis zu militärhistorischen Details des Zweiten Weltkrieges und Film- und Comiczitaten – sollte man jederzeit rechnen, und auch mit erstaunlicher Sachkenntnis, Spottlust oder kichernder Parodie.
Unnötig oder nur ornamental ist dabei überhaupt nichts. Kleinste Details bekommen plötzlich schwerwiegende Funktionen. Deswegen sind Marshalls Bücher auch etwas anderes als „Grotesk-Krimis“. Sie sind Kommentare zur und Verarbeitungen von Welt. Der Schauplatz Hongkong ist nicht zufällig oder nur deswegen gewählt, weil Marshall dort gelebt hat: Hongkong ist ein rätselhaftes, bizarres Gebilde, in dem die Geschichte der letzten 99 Jahre merkwürdig geronnen ist und das bald zu etwas anderem zerfallen wird. Seine geographische und geopolitische Lage, seine ethnische Mischung zwingen tausendundeine Perspektive geradezu herbei, machen Erklärungen sinnlos.
Deswegen erklären die Romane auch nichts. Sie zeigen nur, und auch das gilt bis hinunter zur semantischen Ebene. Rätsel, die Lösung von Rätseln, Komik und Tragik, Spiel und Ernst, einfache und komplexe literarische Formen, Tradition und Popkultur, Geschichte und Zukunft, Wut und Trauer, all das mischt sich bei Marshall zu einem hyperscharfen literarischen Kaleidoskop, das man irgendwann einmal als literarisches Programm verstehen wird, das seiner Zeit adäquat, also weit voraus war.
Sechs der „Yellowthread Street“-Bücher sind bei Goldmann erschienen (und vergriffen), fünf, leider in chronologisch wirrer Folge und mit Lücken, bei Rotbuch, die restlichen überhaupt nicht. Acht weitere Romane von Marshall, die in Manila, New York oder Shanghai spielen, sind in Deutschland nicht verlegt.
Marshall gehört zu den innovativsten Schriftstellern der Gegenwart. Hier hatte man noch keine rechte Chance, das zu erkennen. Es wird langsam Zeit. Thomas Wörtche
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