: Zeitenwende in Jüdischer Gemeinde
■ Andreas Nachama neuer Vorsitzender der Berliner Juden. Vorstand will sich stärker in Berliner Belange einmischen
Berlin (taz) – Als vorgestern abend die 21 neuen Parlamentsmitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Berlin aus ihrer Klausur kamen, um ihre Wahl des Vorstandsvorsitzenden bekanntzugeben, brandete der Beifall im überfüllten Gemeindesaal schon auf, ehe der Name offiziell genannt wurde. Andreas Nachama, der promovierte Museumsfachmann und Direktor der „Stiftung Topographie des Terrors“, wird in den kommenden vier Jahren die mit 11.000 Mitgliedern größte jüdische Gemeinde Deutschlands leiten.
Den 45jährigen erwartet eine Herkulesarbeit: Die Gemeinde hat nach unsauberen Grundstücksgeschäften einer ihrer früheren Repräsentantinnen an Glaubwürdigkeit verloren und ist zerstritten. Die Integration der etwa 5.000 Zuwanderer aus der Ex-Sowjetunion ist nur sehr oberflächlich gelungen.
Zudem gibt es noch gewaltige Probleme mit dem Jüdischen Museum, dem der Berliner Senat nicht die Autonomie einräumen will, die sich die Gemeinde (und die Intelligenz der Stadt dazu) wünscht. Darüber hinaus bedrohen Sparpläne des Senats das Angebot der Jüdischen Volkshochschule. Nachama wird künftig eine 60-Stunden-Woche haben. Von seinem Posten bei der „Stiftung“ hat er sich schon beurlauben lassen.
Seine Wahl und auch die des ihn unterstützenden neuen Vorstands läutet eine Zeitenwende ein. Die politisch aktive Zeit der Holocaust-Überlebenden ist zu Ende. Die neuen Frauen und Männer des Vorstands, aber auch die Mehrheit der insgesamt 21 Gemeindeparlamentarier, gehören zur Generation der Nachgeborenen. Es sind zum einen die Kinder der „displaced persons“. Zum anderen aber – und hier liegt ein großer Unterschied zum früheren Vorstand unter der Leitung Jerzy Kanals – gehören dem Gremium auch erstmals Kinder an, deren Eltern Angehörige des alten Berliner Judentums waren.
Diese Mischung verspricht ein neues Selbstbewußtsein. Stärker als zuvor, so steht zu erwarten, wird sich das neue Gremium in die Belange der Stadt einmischen. Nicht nur der Holocaust und die Verantwortung der Täter für die Opfer wird im Vordergrund seiner Arbeit stehen, sondern auch das Selbstbewußtsein für ein aktives „Jüdischsein“.
Trotz aller Vorschußlorbeeren, die Nachama und Hermann Simon (der frischgewählte Vorsitzende der Repräsentantenversammlung und Direktor des Centrum Judaicum) bekommen, gab es bei dieser Wahl auch Wermutstropfen. Denn ob der neue fünfköpfige Vorstand in Gänze dem Mehrheitswillen der Gemeinde nahekommt, ist offen. Gewählt wurden ausschließlich die Personen, auf die sich die 21 Repräsentanten in schwierigen Vorabgesprächen mühsam geeinigt hatten. Dabei waren Verdienste in der Vergangenheit und vor allem die Listenzugehörigkeit zu beachten. Ergebnis: Alle unabhängigen Vorstandskandidaten wie Alexander Brenner, ehemaliger Diplomat in Tel Aviv und Moskau, aber auch Albert Meyer, der für die Interessen der Neuzuwanderer aus der früheren Sowjetunion antrat, verloren gewaltig.
So bekam Brenner, den die Gemeinde im Juni mit der dritthöchsten Stimmenzahl in die Repräsentanz wählte, nur zwei Stimmen des Parlaments. Den weiteren Vorstand bilden neben Nachama auch das frühere Vorstandsmitglied Norma Drimmer, die früheren oppositionellen Parlamentarier Moishe Waks und Meir Piotrkowski sowie die Newcomerin Sarah Singer. Anita Kugler
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