piwik no script img

Erbitterte Kontroverse in Polen

Anfang 1994 veröffentlichte der Historiker und Redakteur der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza, Michal Cichy, eine Rezension von Calel Perechodniks Lebensbeichte. Durch Cichys Rezension erfuhren die polnischen Leser erstmals, wie während des Ghetto- Aufstandes im Frühjahr 1943 die Angehörigen der polnischen Heimatarmee Armia Krajowa (AK) die jüdischen Aufständischen ihrem Schicksal überließen, ihnen sogar offen feindselig gegenübertraten. Diese Haltung setzte sich auch gegenüber den Überlebenden des Ghetto-Aufstandes von 1943 fort, die sich August/September 1944 dem Warschauer Aufstand anschlossen. Cichy berichtete, daß anläßlich des Warschauer Aufstandes sechzig Juden von rechtsextremistischen Gruppen innerhalb der AK ermordet worden sind.

Für die heute noch lebenden Mitglieder der Armia Krajowa waren Michal Cichys Artikel eine ungeheuere Provokation, weil sie einen Schatten auf die polnische Heiligengeschichte warfen. Dies um so mehr, als das Andenken an die AK in den Jahrzehnten der realsozialistischen Herrschaft verpönt gewesen war und nur der – zahlenmäßig unbedeutende – kommunistische Widerstand gefeiert werden durfte. Entsprechend stark war die Glorifizierung der Armia Krajowa innerhalb des demokratischen Lagers während der Diktatur gewesen. Daß ausgerechnet eine Zeitung, die aus der Solidarność-Bewegung stammte, als „Nestbeschmutzer“ auftrat, empörte. Eine heftige Debatte setzte ein. Die Redaktion wich vor dem konformistischen Druck nicht zurück und setzte damit ein Beispiel für „Vergangenheitsbewältigung“. Die Debatte wurde mit ihren wichtigsten Beiträgen 1994 in der Nummer 6/7 der Zeitschrift Transodra übersetzt und dokumentiert. Sie fand in der deutschen Publizistik keinen Widerhall. cs

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen