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Das Empire verliert seine Schuld

Hongkong ist fort, das Empire vorbei. Großbritanniens Konservative verteufeln im Augenblick des Rückzugs die Aufgabe der Herrschaft als Todesstoß für die Freiheit. Ihre Erinnerung verklärt die Realität von Imperialismus und Eroberungskrieg.

Vor 100 Jahren und neun Tagen feierte Queen Victoria, Königin des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Irland und Kaiserin von Indien, ihr diamantenes Dienstjubiläum mit wuchtigen Paraden und prächtigen Prozessionen in allen Erdteilen. Es war der größte Augenblick des mächtigsten Reiches der Welt, das von den gefrorenen Weiten Kanadas über indische und afrikanische Dschungel bis zu den Bergwäldern Neuseelands reichte und in dem sprichwörtlich die Sonne nie unterging.

Heute sind den Briten außerhalb des Mutterlandes noch 180.000 Menschen in versprengten Inselgebieten geblieben. Hongkong war der letzte größere britische Auslandsbesitz, Chris Patten der letzte britische Kolonialgouverneur mit realer Macht. „Keine Klischees“, schrieb Patten jetzt. „Hier endet das Empire.“

Im Augenblick des Abschieds grassiert die Wehmut. Der nostalgische Rückblick gehört in Großbritannien wieder zum guten Ton, die Erinnerung verklärt die Realität von Imperialismus und Eroberungskrieg in ein sanftes rosiges Licht. „Ich bin ein schamloser Verteidiger der Bilanz des britischen Empires“, schreibt Margaret Thatcher in einem Zeitungsbeitrag zur Übergabe von Hongkong. „Es hat die Herrschaft des Gesetzes und den Horizont der Selbstverwirklichung Millionen Menschen nahegebracht, die das sonst nicht gekannt hätten.“ John Keegan, einer der einflußreichsten britischen Historiker, zählt in der Einleitung zu einer Empire- Serie im konservativen Daily Telegraph auf: karibische Rechtsanwälte, indische Generäle, malaysische Professoren, Hongkonger Romanciers, afrikanische Priester, pakistanische Cricketspieler – alle eiferten sie Idealen nach, die sie vom britischen Empire geerbt hätten. „Von welchem anderen Reich ließe sich das behaupten? Die Franzosen trauen sich nicht nach Algerien. Das Habsburger Reich hinterließ kaum etwas außer ungelöstem ethnischen Haß. Die Russen befinden sich im Krieg mit den ehemaligen Sowjetrepubliken. Die Araber lieben die Türken nicht. Lateinamerika ist von Spanien eine Welt entfernt.“

Noch vor wenigen Jahrzehnten wäre das eine Minderheitsmeinung gewesen. Solange das Empire bestand, verteidigten die Antiimperialisten die Freiheit der Völker. Verfechter imperialer Größe waren während der Entkolonisierung der 60er und 70er Jahre reaktionäre Apartheid-Siedler und überhebliche Chauvinisten. Aber wer für Freiheit und Demokratie eintritt, hat heute mit der Übernahme Hongkongs durch die Volksrepublik China wohl eher Probleme. Es ist die konservative Rechte in Großbritannien, die die Aufgabe der britischen Herrschaft am kräftigsten als Todesstoß für die Freiheit verdammt. Das Ende des Empire ist zugleich seine Rehabilitation.

Dieser kulturelle Umbruch ist ein Produkt der konservativen Regierungszeit von 1979 bis 1997. Einer der ersten außenpolitischen Akte der Regierung Thatcher war die Beendigung des weißen Minderheitsregimes in Rhodesien und die Schaffung des freien Simbabwe 1980. Der erfolgreiche Krieg gegen Argentinien um die Falklandinseln 1982 galt dann als Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts der Inselbewohner. Danach entstand eine Rückbesinnung auf das Empire rund um die Erinnerung an Britisch-Indien, vor allem im Bereich der Populärkultur.

Kritische Filme wie „Gandhi“ sowie verklärende Bestseller wie Paul Scotts „Raj Quartet“, ein Romanzyklus über die Entkolonisierung Indiens, verfestigten das Bild der indischen Teilung von 1947 mit ihren Millionen Toten und Vertriebenen als schaurige Kapitulation vor ethnischem und religiösem Haß. Das erleichterte es vielen Briten, sich mit der Wandlung ihres Landes zu einer multikulturellen Gesellschaft abzufinden. Schon im Wahlkampf 1983 – als Thatcher haushoch siegte – klebten die Konservativen Plakate, auf denen ein karibischer Immigrant zu sehen war und darunter die Parole: „Labour sagt, er ist schwarz. Wir sagen, er ist Brite.“

Die in dieser Zeit vereinbarte Übergabe Hongkongs an China ist da ein Betriebsunfall, den die konservative Rechte heute als perfide Kapitulation der Betonköpfe im Außenministerium in einer Reihe mit den Münchner Verträgen mit Hitler darstellt. Erst unter John Major in den 90er Jahren kam London auf die Idee, vor 1997 noch schnell ein wenig Demokratie in Hongkong einzuführen – in der grandiosen und verrückten Hoffnung, China mit dem Freiheitsbazillus zu infizieren.

Im Unterschied zur imperial auftrumpfenden Thatcher war der zurückhaltende Cricket-Fan John Major der erste wahrhaft postkoloniale britische Premierminister. Erst unter Major wurde Großbritannien zu einem Land, in dem sich auch die Rechte mit dem Ende der Apartheid in Südafrika abfand, in dem die eingewanderten Nachfahren des Empire auch ökonomisches Gewicht erlangten, in dem ein karibischer Karneval zu Londons größtem Kulturereignis heranwuchs und der britische Beitrag zur Weltliteratur vor allem von indischen Schriftstellern geleistet wurde.

Doch das unglückliche Schicksal Hongkongs blieb ein Problem. Großbritannien konnte sich nicht einmal dazu durchringen, der Mehrheit der Hongkonger ein Aufenthaltsrecht im Mutterland zu gewähren. Aber auch hier waren es vor allem rechte Nationalisten, die sich heute in Grausen von ihren ehemaligen Besitztümern abwandten, während die kulturelle Anziehungskraft des zur kosmopolitischen Weltoffenheit umgedeuteten Kolonialgeistes beständig wächst.

Nun ist Hongkong fort. Das Empire ist vorbei, die schwere Bürde der Realität fällt ab. Aus einer politischen Belastung wird eine kulturelle Bereicherung – ein Zustand der Unbeschwertheit, den Großbritannien zuletzt in den Jahrzehnten seines ökonomischen Aufstiegs im 18. Jahrhundert erlebte. Das Reich erlischt und verliert zugleich seine Schuld. Dominic Johnson

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