: „Ich bin kein chinesischer Dichter“
Vaterland, Muttersprache oder Tradition sind keine Naturgegebenheiten, sondern hängen von den Menschen ab. Insofern wird man nicht in sie hineingeboren, sie werden geschaffen – auch durch Gedichte. Auskünfte eines Lyrikers ■ Von Yang Lian
In der Beschreibung des neusteinzeitlichen Geländes Banpo Village in Xi'an stehen zwei Sätze: „Der Friedhof ist an der Nordseite des Dorfes angelegt. Die Toten sind so begraben, daß ihre Köpfe nach Westen liegen.“ Wie zwei Schüsse direkt an meinem Ohr ließen sie mich erstarren, mein Gehirn leerlaufen. Eine Sekunde lang wußte ich nicht, wo und wer ich war: Leichnam oder Hinterbliebener? Beides oder keines von beiden? Mehr als sechstausend Jahre danach und Tausende von Kilometern entfernt, mit einem Handstreich entwurzelt. Während der „Kulturrevolution“ in einem kleinen Dorf bei Peking, wohin man mich geschickt hatte und wo ich einer der sechs Sargträger gewesen war, hatte ich den Friedhof und die Beerdigungsbräuche des Dorfes kennengelernt: an der Nordseite des Dorfes, mit den Köpfen nach Westen. Geschichte war ungeheuer nahe gekommen, hatte sich plötzlich in mir selbst offenbart.
Räumlich gesehen ist „China“ ein Territorium, zeitlich bedeutet es Tradition. Was bedeuten diese Ausdrücke genau? Seit den achtziger Jahren bin ich mindestens dreimal neu beurteilt worden:
– als „Dichter, der gegen die Tradition verstößt“; das war, als die Lyrik ihre eigene Sprache entdeckte, die natürlich verwirrend war für die, deren Lesegewohnheiten durch die Slogans der „Kulturrevolution“ geprägt wurden;
– als „Sucher nach den Wurzeln, Dichter der Tradition“; das war, als ich in meinen Gedichtzyklen „Banpo, Dunhuang“ und „In Symmetrie mit dem Tod“ das Ausmaß einer elenden Realität auslotete; aufgrund ihrer Titel nahm man jedoch irrigerweise an, daß ich mich in eine wunderbare und großartige Vergangenheit „zurückbewegen“ wolle;
– als „Dichter, der die Tradition verwirft“; das war nach 1989, als ich von einem chinesischen Hooligan-Dichter zu einem chinesischen Dichter wurde, der mit einem neuseeländischen Paß durch die Welt zieht und keinen greifbaren Beweis seines „Chinesischseins“ mehr hat außer seinen auf chinesisch geschriebenen Gedichten. Wie ich einmal zu einem schottischen Dichterfreund sagte, der mir die Macbethsche Schloßruine zeigte: „Ich habe fast vergessen, wie sich das anfühlt: als Dichter im eigenen Land zu leben.“
Aber habe ich jemals „mein eigenes Land“ gehabt? In dieser Welt kommt niemand mehr aus „China“. Ich komme aus der „Volksrepublik China“. Etwas anderes bedeutet „chinesisch“ für mich nicht. Es zeigt ganz einfach nur eine der Tiefgründigkeiten des Daseins auf. Wie chinesische Substantive, die weder Geschlecht noch Tempus kennen, kann jeder in den Zeilen eines Gedichts neu geboren werden. Und ein Verb, das kein Tempus kennt, offenbart uns, daß das lebendige „Ich“ in Wirklichkeit immer schon ein Fossil ist, erfüllt vom Schrecken seines Wissens von der Welt [siehe Fußnote hierzu].
Was mich betrifft, wäre Banpo, die sogenannte erste Seite in der Geschichte der chinesischen Kultur, einfach nur ein Wort, eine alte Legende geblieben, wäre ich nicht aufs Land geschickt worden und hätte mit meinen eigenen Ohren das Kollern toter Schädel auf den Sargbrettern gehört. Ohne meine eigene Arbeit, den Gebrauch metaphorischen Wandels als Ausdruck des unwandelbaren Geistes, der die condition humaine in mir berührte – und eine kleine lebendige Tradition für mich selbst schuf –, wären Qu Yuan, Li Bai, Cao Xueqin und die „fünftausend Jahre“ chinesischer Zivilisation für mich etwas Äußerliches geblieben: Vergangenheit und keine Gegenwart, Wissen und kein Denken.
Vaterland, Muttersprache und Tradition kommen nicht aus der Natur, sondern sind von uns abhängig; der Dichter hat es nicht nötig, „nach Wurzeln zu suchen“, denn er ist selbst die Wurzel, die Quelle, der Mensch von Banpo, der den Ton knetet, um seine Stimme zu finden. Ein Gedicht – selbst wenn es am Computer entsteht – ist kulturell gesehen immer noch ein Steinzeitereignis.
Ich bin kein „chinesischer“ Dichter, nicht einmal ein Dichter, der auf „chinesisch“ schreibt. Die Grenzen und Möglichkeiten der chinesischen Sprache haben meine Persönlichkeit und selbst meine Exzentrizitäten infiziert. Ich bin nur ein „yanglischer“ Dichter, meine Dichtung kann nicht „übersetzt“ werden in das allgemeine Chinesisch irgendeines anderen. (Die Essenz aller Dichtung ist dieses „Nicht-Allgemeine“.) Insofern darf der Dichter sagen: Ohne mich ist meine Muttersprache nicht das, was sie sein könnte.
Daran ist nichts weiter seltsam. „China“ wird um eine Person kleiner. Die „traditionelle Kultur Chinas“ wird in einem einzigen kurzen Gedicht geboren, das gerade geschrieben worden ist. Es ist nicht so, daß ich in ein „Vaterland“, in eine „Tradition“ hineingeboren bin, vielmehr werden sie geboren durch meine Dichtung. „Chinesisch sein“ hängt davon ab, daß ich es wiederentdecke und wieder wähle. Das „Ich“, ambivalent, spezifisch, ästhetisch-bewußt, ausgestattet mit einem charakteristischen und moralischen Standpunkt, entspringt einer einzigartigen Ästhetik. Aber ein „Vaterland“, das physische Merkmale hat oder von einer Kultur beherrscht wird – einer „Tradition“, die durch eine bestimmte Psychologie strukturiert ist –, ist der kleinste gemeinsame Nenner, definiert, umrissen, angedeutet und vereinfacht, bis es einer Geburtsurkunde und Aufenthaltsgenehmigung entspricht.
Dann wird die große Zahl seiner Bewohner zum Äquivalent der Hohlheit seines Inhalts, wie die zur Abstimmung erhobenen Hände und der Applaus in der Großen Halle des Volkes in Peking. In Wahrheit ist dies der notwendige ästhetische Konflikt zwischen Verfeinerung und Vulgarität. Es ist auch der Konflikt zwischen Verachtung für die Dichtung und ihrer Aufgabe; selbst wenn man sie einfach nur existieren läßt, wird das ausreichen, die tauben und stummen „Geschichtszeugen“, die sich neben Regierungsanklägern aufreihen, vor Scham versinken zu lassen.
Sprache zu eröffnen, heißt Möglichkeiten des Denkens und Fühlens zu eröffnen, und das ist der wahrhaftigste Gegenstand der Dichtung. Es geschieht zufällig, aber es hat das Chinesisch, das ich in meiner Dichtung gebrauche, bestimmt. Insofern bin ich also doch „traditionell“, wegen meiner Sprache, traditionell bis zur Unfähigkeit, die Bezeichnung „Dichter der Nation“ zu ertragen und kein Bedürfnis nach einer chinesischen Nationalität mehr zu spüren.
Welche Nationalität hatten die Menschen von Banpo? Ihre außerordentliche, polychromatische Keramik braucht keinen parasitären „Ursprung“. Sie selbst ist Ursprung und Quelle einer Kultur. Sie läßt mich den ersten Blutstropfen hören, der in der blinden Gasse meines Körpers kursiert – lebendig und hell leuchtend, nach sechstausend Jahren.
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