: Vorwärts und nichts ist passiert
■ Mutwillig, taktlos, zärtlich: Zusje (Little Sister) von Robert Jan Westdijk erzählt die Geschichte einer Geschwisterliebe
Bilder aus dem fahrenden Zug. Die schnell durchlaufene Wegstrecke nach Amsterdam. „Endlich. Ich bin unterwegs“, sagt eine Stimme. „Schaust Du zu?“Als Martijn mit seiner Kamera über der Schulter vor der Tür seiner Schwester steht und auf das Stichwort „action“die Klingel zieht, ist der Radikaldialog des Films Zusje (Little sister) von Robert Jan Westdijk eröffnet. Mutwillig, taktlos und zärtlich.
Martijn (Hugo Metsers III) filmt Daantjes Leben, ihre Freunde, ihren Liebhaber Ramon (Roeland Fernhout). Er stört, kommentiert und verlockt die Schwester zur Nähe. Und Daantje (Kim van Kooten), die, zwanzigjährig, ihr eigenes Leben lebt, erscheint mit allem, was sie tut oder sein läßt, im sehnsüchtig-vertrauten und eifersüchtigen Kamera-Auge des Bruders. Ob er denn gar nicht interessiert sei an dem, was sie zu sagen habe, fragt Daanjes beste Freundin Ingeborg (Ganna Veenhuysen). „Sicher, wenn es mit Daanje zu tun hat.“„Und der Rest?“– „Da kannst Du tot umfallen.“
Zusje, der als der erste Spielfilm Westdijks 1995 unter den Bedingungen einer Low Budget Produktion entstand, ist ein Film über den kompromißlosen Versuch einer Auseinandersetzung. Ein Film, so konfrontativ und beweglich wie die Mittel seiner Handkamara, subjektiv und schamlos, manchmal ganz still und unwiderstehlich gefährlich. Weil die Kamara nicht auf einen fixen Punkt oder eine starre Einstellung vertraut, können ihre Bilder in alle möglichen Richtungen zeigen. Vorwärts auf die Schwester und rückwärts auf die Vergangenheit. „Eh, Martijn, spiel mal Dein Band zurück“Immer geht es im Kreis herum. Wobei sich die störanfälligen und hysterischen Schwenks in die Tabu-Blicke einer ausweglosen Beziehung verwandeln. Sie müsse sich „die Filme“ansehen, könne dem, was „passiert“ist, nicht länger ausweichen. Wenn Martijn seine Schwester dazu auffordert, „hinzugucken“, dann spiegelt der Film, souverän und nachdrücklich wie seine Bilder, genau diesen eigenen kreisenden Impuls.
„Nichts ist passiert! Nichts!“Dazu ist die Sequenz eines alten Super-8-Films hineingeschnitten. Die Mutter kommt ins Zimmer ihrer Tochter, mit Torte und neun brennenden Kerzen. Es ist Daantjes Geburtstag. Man erkennt den Bruder, wie er nackt unter der Bettdecke der Schwester hervorspringt, die panische Mutter, die ihn aus dem Bild jagt, und die Schwester, die etwas schreit und entsetzt den Kopf schüttelt. Nichts ist passiert. Auf wunderbare Weise wird der Film sein eigenes keusches Rätsel lösen, spätestens wenn am Schluß der Bruder und die Schwester wieder nackt und bloß zusammen sind.
Elisabeth Wagner
3001
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen