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Wenn Generäle nichts wissen wollen

Untersuchungskommission in Kanada legt vernichtenden Bericht über den UNO-Einsatz in Somalia 1993 vor. Der Militärführung wird Versagen vorgeworfen, der Regierung Vertuschung  ■ Von Dominic Johnson

Berlin (taz) – „Tiefes rechtliches und moralisches Versagen“ hat eine unabhängige Untersuchungskommission in Kanada dem Militär im Zusammenhang mit dem UN-Einsatz in Somalia 1992–1993 vorgeworfen. Der Abschlußbericht nach einer zweijährigen Untersuchung unter Leitung von Richter Gilles Letourneau, der am Mittwoch in der kanadischen Hauptstadt Ottawa vorgelegt wurde, zeichnet ein düsteres Bild der Verhältnisse im kanadischen Militär. „Wir können nur hoffen, daß Somalia den Tiefpunkt des Schicksals der kanadischen Streitkräfte darstellt“, heißt es.

Thema der Untersuchung waren ursprünglich die Umstände, unter denen kanadische Soldaten in Somalia vier somalische Zivilisten töteten. Kanada hatte im somalischen Belet Huen zwischen Dezember 1992 und Mai 1993 ein 600 Mann starkes Luftlanderegiment stationiert. Im Februar und März 1993 wurden zwei Zivilisten erschossen, zwei weitere gefangengenommen und zu Tode gefoltert. Mehrere verantwortliche Soldaten wurden von Militärgerichten verurteilt. 1994 löste die kanadische Armee das umstrittene Regiment auf, und Verteidigungsminister David Collenette ordnete eine umfassende richterliche Untersuchung der gesamten Somalia-Mission an.

Schnell stellten sich unangenehme Tatsachen heraus. Das Luftlanderegiment war von Neonazis infiltriert. Der Kommandeur des kanadischen Somalia-Kontingents, Oberst Serge Labbe, soll demjenigen Soldaten, der als erster einen Somali tötet, eine Kiste Sekt versprochen haben. Als der erste Somali in kanadischem Gewahrsam erschossen wurde, kam der Befehl angeblich von einem US- Soldaten in kanadischer Uniform – nach Aussage der Armeeführung ein normaler Vorgang.

Im Laufe der Monate wurde die Verantwortung höchster Stellen immer deutlicher. Hohe Offiziere wußten um Disziplinprobleme im Luftlanderegiment, taten aber nichts. Die Tagesberichte aus Somalia vom Februar und März 1993 verschwanden spurlos. Im Oktober 1996 traten Armeechef Jean Boyle und Verteidigungsminister Collenette zurück. Boyle hatte die Existenz belastender Dokumente bestritten und die Verantwortung für deren Verschwinden dann seinen Untergebenen zugeschoben. Je höher sich die untersuchenden Richter in der Militärhierarchie arbeiteten, desto mehr gerieten sie unter politischen Druck. Im Januar 1997 ordnete Collenettes Nachfolger als Verteidigungsminister, Doug Young, das Ende der Untersuchung für März an, obwohl die Kommission um eine Frist bis Jahresende gebeten hatte. „Wir dachten, wir sollten die Sache zu Ende bringen“, begründete Young den Schritt. Die Kommission wurde damit vor allem daran gehindert, den Zeitraum nach dem Abzug der kanadischen Truppen zu untersuchen – also alles, was mit der Vertuschung von Beweismaterial zu tun hatte. Da hätten wohl prominente Köpfe rollen müssen: So wollte die Kommission die 1993 amtierende Verteidigungsministerin Kim Campbell und ihren Stellvertreter Bob Fowler verhören. Campbell bewarb sich inzwischen um die Führung der oppositionellen Konservativen, und Fowler war Kanadas UNO-Botschafter.

In Reaktion auf die Einschränkung der Untersuchung kündigte die Kommission an, ihre gesamte Dokumentation nach Abschluß ihrer Ermittlungen an die Öffentlichkeit zu geben. Daraufhin gingen mehrere hohe Militärs vor Gericht. Nachdem ihre Klagen letzte Woche abgeschmettert wurden, war der Weg zur Veröffentlichung des Untersuchungsberichtes frei.

In dem 2.000 Seiten langen Bericht nimmt die Kommission kein Blatt vor den Mund. „Die Freigabe von Dokumenten blieb während der Dauer der Untersuchung unvollständig“, heißt es. „Aufgrund der Regierungsentscheidung, die Untersuchung zu beenden, konnten wir die höheren Ränge der Hierarchie in bezug auf die angeblichen Vertuschungen und das Ausmaß ihrer Beteiligung an der Nachstationierungsphase nicht erreichen... Die Entscheidung hat effektiv vielen in hohen Führungspositionen erlaubt, sich der Verantwortung für ihr Verhalten, Entscheidungen und Handlungen während und nach der Mission völlig zu entziehen.“

Was die Militärführung angeht, spricht der Bericht von einer „ernsthaft mangelhaften Kommandostruktur“. Zwar habe man der Kommission weismachen wollen, daß Truppenkommandanten nicht gewußt hätten, was in ihren Truppenteilen vorging – „aber es ist bewiesen, daß genug Information vorlag“. Das Luftlanderegiment sei 1992 „einfach nicht einsatzfähig“ gewesen und habe keinerlei Ausbildung für UN-Einsätze erhalten, obwohl es „seit vielen Jahren als UN-Standby- Truppe designiert“ war. In Somalia selbst habe ein „Enthusiasmus für risikoreiche und profilierte Aktionen“ vorgeherrscht, der „rationale Entscheidungsfindung auf den höchsten Ebenen untergraben“ hätte. Dazu seien den Soldaten ihre Einsatzregeln nie richtig erläutert worden.

Der Bericht hat Kanadas Regierung schwer verärgert. Verteidigungsminister Art Eggleton sprach von einer „Beleidigung“ der Armee und verwies auf das „großartige“ Verhalten kanadischer Soldaten in Bosnien und Haiti. Damit hat er vielleicht den Mund zu voll genommen. Kommissionschef Letourneau hat bereits darauf hingewiesen, daß hochrangige Mitglieder der Somalia-Mission später zur Ifor-Truppe nach Bosnien verlegt wurden – und daß inzwischen kanadischen Soldaten in Bosnien die Vergewaltigung von Insassen einer psychiatrischen Frauenklinik vorgeworfen wird.

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