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Bericht aus dem Innern des Bettenberges

■ Wenn der Nachttopf und ein Schluck Wassser zum Infarktrisiko werden: Erlebnisprotokoll vom Aufenthalt in der Intensivstation

Unser Patient ist nicht gänzlich unerfahren. Er ist nach einer Pause von vielen Jahren mit der gleichen Symptomatik schon zwei-, dreimal in verschiedene Stollen des Bettenberges eingefahren. Er kennt sich vor Ort also ein wenig aus. Er kennt die Funktionen der Knappen, der Hauer, der Steiger in dem Schacht, weiß auch, was ein Obersteiger ist und ein Bergwerksdirektor, einschließlich dessen Stellvertreter.

Auch in der Norddeutschen Tiefebene gibt es nämlich Berge. Nicht nur Butter- und Rindfleischberge, Hügelgräber und Endmoränen, sondern eben auch Bettenberge. Allerorten. So auch in unserer kleinen Stadt in der Nähe von Hamburg/Germany. In einem weiland eingemeindeten Dorf weit vor den Toren der eigentlichen Stadt steht der Teil des Bettenberges. Unser Schacht wird nicht staatlich betrieben, sondern privatwirtschaflich, von einer der Pflege des Glaubens verpflichteten Institution, die sich dadurch Steuervorteile und Existenzberechtigungsnachweise erwirbt. Schon erraten? Richtig! Ein konfessionell firmierendes Krankenhaus.

Unser Patient gerät also dort hin wg. akuter pectanginöser Beschwerden. Muß er doch ernstnehmen. Tut er auch. Kennt er ja schon. Und diesmal ist es wirklich schlimm. Wer will schon einen plötzlichen Herztod riskieren? Also ruft die Freundin die Notrufnummer 112 an. Die kommen auch schnell. Einen Tick zu schnell, denn unser Patient hätte sich eigentlich noch – wie allmorgendlich – seines Darminhalts entledigen müssen. Zu spät. Im Notarztwagen wird er sofort hingelegt, behandelt und entmündigt. Die Schmerzen sind so arg, und die Angst ist so groß, daß er zunächst alles mit sich machen läßt. Es war schon schlimm genug und eigentlich unverantwortlich, daß er selbst die Treppen hinunter und vor die Tür gegangen ist, auf den Wagen zu.

Apropos Notarztwagen. Es kommt zeitgleich auch noch ein Rettungswagen irgendeines Dienstes. Der steht die ganze Viertelstunde während der Erstversorgung unseres Patienten mit vor der Tür, blockiert im Verein mit dem Ersten die Einbahnstraße und fährt dann auch wegen unverrichteter Dinge weg. Was immer diese Dinge hätten sein können. Aber abgerechnet wird das sicher. Wer zahlt die nicht unerheblichen Kosten? Und wo würde er während der Zeit vielleicht dringend gebraucht? Aber es ist ja Pfingstsonntagmorgen um halb Acht. Never mind!

Reinfarktausschluß ist ein ernstzunehmendes Anliegen. Die Notaufnahme in der Intensivstation funktioniert phantastisch. Unser Patient ist richtig glücklich, entspannt sich und ist froh, daß es das gibt. Die akuten Schmerzen kriegt der aufnehmende Arzt medikamentös schnell in den Griff. Pfft! Auch die Ärztin, die die Anamnese erhebt, ist verständnisvoll. Wohlgefühl stellt sich bei unserem Patienten ein. Sollte es vielleicht doch anders sein als die Erfahrung vom letzten Mal vor drei Jahren im Bergwerk? Wir werden sehen.

Unser Patient hat immer noch den...

„Ach Schwester, ich müßte dringend mal zur Toilette.“

„Tut mir leid. Wir sind hier auf der Intensivstation. Da gibt es keine Patiententoiletten. Allenfalls einen Nachtstuhl.“

„Dann bitte ich um denselben.“

Nein. Als myokardinfarktverdächtiger Patient darf er nicht aufstehen. Allenfalls eine Bettpfanne... Ach nein, danke. Im Liegen – das hat er noch nie gemacht. Es wäre dem vorgeschädigten Herzen sicher nicht zuträglich, wenn unter so unnatürlichen Verrenkungen gekackt werden müßte. Da verkneift er es sich doch lieber für eine Weile.

Am nächsten Morgen. Das Frühstück wird gereicht. Die Wünsche waren am Vortag geklärt: Vollkornbrot, keine Marmelade usw. Ebenso die Medikation. Die Smarties – keine Reklame für einzelne Medikamente – und dann: „Schwester, wozu ist denn dieser Cocktail gut?“

„Das ist ein Abführmittel.“

„Das brauche ich nicht“

„Das müssen Sie aber nehmen. Das gehört zur Therapie.“

„Nana, sowas habe ich noch nie genommen und noch nie gebraucht.“

„Sie hatten aber gestern keinen Stuhlgang!“

„Nein. Und zwar, weil Sie mich nicht gelassen haben.“

„Na also, Sie hatten nicht! Nun nehmen sie das mal! Machen Sie keine Schwierigkeiten. Das gehört nun mal zur Therapie!“

„Nein.“

Später Vormittag. Jetzt hat eine andere Schwester Dienst. Der Reinfarkt ist inzwischen ausgeschlossen, so daß unser Patient zur Verrichtung seines großen Geschäftes aufstehen darf. Aber ein Patientenklo für solche Fälle gibt es auf der Intensivstation oder in deren Nähe nun einmal nicht. Warum eigentlich nicht ? Never mind.

Also her mit dem „Nachtstuhl.“Es, geht. Aber es stinkt. Natürlich. Fenster auf!

„Dürfen wir ja eigentlich nicht. Wegen der Klimaanlage. Also gut, ausnahmsweise.

Am nächsten Morgen hat nicht eine Schwester, sondern ein Bruder (Pfleger) Dienst. Wieder dieser Cocktail zum Frühstück.

„Was soll das denn? Das habe ich doch gestern schon abgelehnt. Und es hat sich gezeigt, daß ich es nicht brauche, auch wenn es noch so sehr ,zur Therapie gehört'.“

„Ach was, es wird hier doch immer wieder gern genommen.“

Schwupp, in den Ausguß.

„Und was kostet das, wenn es dann im Ausguß landet, und wer bezahlt das?“

Wörtliches Zitat, vom selben Bruder zum Zimmernachbarn unseres Patienten anläßlich der Beobachtung geäußert, daß nur ein Bändsel fehlen, ein Knopfloch ausgerissen sein oder sonst eine Kleinigkeit nicht stimmen mag. Hinein in den Schmutzwäschesack. Und wenn es noch so sauber ist.

„Ach, was denken Sie! Wenn wir hier alles so viel hätten wie frische Wäsche

„Bei meiner Frau zu Hause dürfte ich das aber nicht!“

„Na sehn Sie, dann dürfen Sie es wenigstens hier mal.“

Eine schlüssige, geradezu zwingende Argumentation. Wie schon zuvor bei „...wird aber immer wieder gern genommen“, wenn Patienten es nicht aus- und nachdrücklich ablehnen, ein Abführmittel zu schlucken, um das sie gar nicht gebeten haben. Gehört eben zur Therapie. Wer legt die Einzelheiten solcher Therapie fest ? Never mind!

Die Schwester beruft sich auf... und versteckt sich hinter... Der Patient hat sich zu fügen. Dafür sind Hierarchien gut. Der Arzt und der Oberarzt gar sind freundlich, verständnisvoll, gehen auf den Patienten ein. Die Besen, die Bösen sind immer nur die unteren Chargen. Aber die können sich hinter der Autorität der Höheren verstecken. Und dadurch haben sie weitgehend freie Hand. Auch wenn sie offenbar nur den – manchmal durchaus verständlichen Frust aus ihrem Privatleben an den Patienten auslassen. Wie jene Schwester, die ...

„Schwester, kann ich bitte noch eine Flasche Mineralwasser für die Nacht haben?“

„Da muß ich erstmal in Ihren Unterlagen nachsehen.“

Eine Viertelstunde wartet unser Patient geduldig. Dann kommt der Bescheid über den Flur gestampft:

„Nein, Sie hatten heute schon zwei Liter. Mehr als zweieinhalb dürfen Sie nicht laut Anordnung des Arztes. Also jetzt höchstens noch eine halbe Flasche für die Nacht. Und die haben Sie ja noch. Der Tee gleich zum Abendessen muß ja auch mit eingerechnet werden.“

„Aber Schwester! Ich habe Sie doch nicht um eine Flasche Whisky gebeten. Auch nicht um Rotwein. Nur um Wasser.“

Was sie offenbar nicht bedenkt: Unser Patient könnte sich jederzeit aus dem Wasserhahn am Waschbecken bedienen. Zu Hause trinkt er ohnehin kein Mineralwasser, sondern Trinkwasser aus der Leitung.

„Nu machen Sie hier mal kein Ärger! Ich hab keine Lust, mich mit Ihnen rumzustreiten. Ich geh jetzt zum A.v.D., soll der Ihnen das erklären.“

Der kommt auch schon nach einer halben Stunde. Ein Assistenzarzt, der am Nachmittag anläßlich einer Visite einmal kurz herumgeführt worden ist, ein paar Worte vom Oberarzt über jeden Patienten gehört hat, die er kaum alle behalten haben kann, im Hinterkopf. Er fragt:

„Was gibt es denn?“

„Ach, Sie sind also der A.v.D. ? Das klingt ja fast wie U.v.D.! Wo sind wir denn hier eigentlich?“

„U.v.D. – was ist das?“

„Das kennen Sie nicht? Da haben Sie wohl nicht gedient. Ich auch nicht. Aber das heißt Unteroffizier vom Dienst. Und Sie sind ja hier der Arzt vom Dienst.“

„Also Herzinfarktpatienten dürfen wegen der Gefahr eines Lun-genödems nicht soviel trinken.“

„Mein Urologe hat aber gesagt, ich solle möglichst viel trinken, mindestens zwei bis drei Liter am Tag, damit die Blase ordentlich durchgespült wird.“Unser Patient hat nämlich nebenher auch noch ein akutes urologisches Problem.

„Nein, nein! Ich habe keine Lust, Ihnen dann heute Nacht das Wasser aus der Lunge abzupumpen!“

„Aber mein Infarkt ist doch inzwischen ausgeschlossen. Dafür bin ich ja hergekommen, zum Reinfarktausschluß.“

„Himbeerbubi“hätte die Exgemahlin unseres Patienten in ihrer professoralen Arroganz wohl zu so einem Assistenzarzt gesagt.

Noch eine Stunde später bringt die Nachtschwester – die andere ist inzwischen abgerauscht – eine ganze Flasche Mineralwasser. „Ausnahmsweise!“

Aber – wir greifen vor – das war schon am dritten Tag. Doch am Vortage, also zweiten Tag, spätabends:

Schwierigkeiten mit der Urologie. Es läuft nicht ab. Der Katheter ist wohl verstopft. Harnverhalt. Das sind echt Nöte.

„Ach, da machen wir mal eine Vorspülung.“Gemeint ist eine Rückspülung, die durch Wasserdruck von unten her etwa durch Nierengrieß entstandene Verstopfungen im Abfluß auflösen soll. Ähnlich wie es uns aus Kindertagen von einem Einlauf in der anderen Körperendöffnung her vertraut ist. Das funktioniert auch zunächst, bringt etwas Erleichterung.

„Naja. Nun ist ja gut. Denn versuchen Sie mal zu schlafen!“

Aber nach einer Viertelstunde ist es wieder soweit. Also die ganze Prozedur noch einmal. Diesmal mit Unterstützung des Nachtdienstarztes, nachdem auch der Blutdruckmeßautomat anläßlich der Konvulsionen im Unterbauch nachhaltig Alarm geschlagen hat. Unser Patient hängt an mehreren Schläuchen, Kontakten mit Kabeln, und der Monitor meldet ständig. Wir sind schließlich auf der Intensivstation.

Und danach: „Naja, nun ist es aber ja wirklich gut. Denn versuchen Sie mal, zu schlafen.“Der Blutdruckmeßautomat wird abgeschaltet. Schon bei der letzten Messung hieß es „Machen Sie mal lieber die Augen zu !“Unser Patient sollte seine eigenen Blutdruckwerte nicht sehen. Damit er sich nicht unnötig aufregt.

Aber nach einer Viertelstunde ist es abermals soweit. Die überfüllte Blase schmerzt kolikartig, der Harndrang ist nicht zu bezwingen. Doch wenn man der verkrampfen Bauchdecken- und Beckenbodenmuskulatur endlich ihren freien Lauf läßt, passiert – gar nichts.

Also – Was tun ? Schon seit Tschernyschnwski, – nicht erst seit Lenin – die entscheidende Frage für jeden Linken. Man kann ja nicht alle zehn Minuten nach der Nachtschwester klingeln, sagt sich unser Patient. Wie würde die wohl auch stimmungsmäßig auf die ständigen Störungen ihres Bereitschaftsdienstes reagieren?

Also: Hinsetzen, die Sache bei der spärlichen Nachtbeleuchtung betrachten (man will ja auch den Mitpatienten nicht unnötig in seiner Nachtruhe stören) und nachdenken. Die physikalischen Gesetze gelten. Wenn es trotz Gravitation und freier oberer Öffnung nicht läuft, muß es an der unteren Öffnung liegen. Also: An der Übergangsstelle den Schlauch lösen, im Gedenken an Carmen Thomas den Restekel überwinden und einmal kurz durchpusten: Pftt! It works! Angenehme Ruhe für den Rest der Nacht. Aber unser Patient – er hätte es am nächsten Morgen besser nicht erzählen sollen in seiner Naivität.

Die Schwester keift fast, daß man das geschlossene System nicht „durch Dekontraktion unterbrechen“dürfe, wegen der Gefahr einer aufsteigenden Infektion in den ableitenden Harnwegen.

„Wieso nicht ? Zuhause muß ich das auf Geheiß meines Urologen zweimal täglich dekontaktieren, um den Beutel zu wechseln.“

Und der Bruder schmeißt sich in die Brust: „Was heißt hier Physik? Sie können doch die physikalischen Gesetze nicht nach Ihrem eigenen Gutdünken interpretieren! Hier stehen 30 Jahre Erfahrung in der Krankenpflege vor Ihnen. Da wollen Sie mir doch wohl nichts erzählen!“Was kann unser Patient darauf antworten als Und hier liegen 63 Jahre Lebenserfahrung und etliche Semester Physikstudium vor Ihnen. Wollen wir wirklich streiten?“

Der Stationsarzt schlichtet den Fall schließlich, indem er mit dem Ultraschallgerät feststellt, daß die Blase zum Bersten voll und der Patient wohl offensichtlich kein Simulant ist. Er ergreift mit sicherer Hand die entsprechenden Maßnahmen. Da aber hat unser Patient längst beschlossen, das Weite zu suchen. Der Infarkt ist ausgeschlossen. Die Urologie geht die Klinik nicht länger etwas an. Zwar sollten noch ein paar diagnostische Maßnahmen eingeleitet und durchgeführt werden, aber – nein danke! Das kann der Hausarzt viel kostengünstiger erledigen. Und er kennt den Patienten besser.

Nichts wie raus aus dem Bettenberg, ans helle Tageslicht, wieder frische Luft atmen! Glückauf.

Berni Kelb

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