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Vivaldi-Klänge im Gegenwind

Arbeitslose Musiker gibt es viele, einen Dirigenten mit einem ABM-Orchester nur einmal: Wie das Ensemble Niederrhein sich in zwei Jahren wieder in die Konzertsäle spielen will  ■ Aus Kevelaer Daniela Weingärtner

Die Spatzen von Marienthal und der Distelfink aus Vivaldis „Jahreszeiten“ konzertieren um die Wette. Ein fülliger Mönch in bodenlanger brauner Kutte strebt über den gepflasterten Platz. Er achtet nicht auf die unterkühlten Vernissage-Gestalten Marke kunstsinnige Unternehmersgattin, die sich zum Eröffnungskonzert der Marienthaler „Kultur auf dem Dorfe“ eingefunden haben.

Kaum mehr als 50 Zuhörer frösteln in den dichten Reihen weißer Gartenstühle. Zwei Mütter beim Abendspaziergang schlendern heran, verfangen sich im Wohlklang der Streicher, setzen sich dazu und schieben ihre Kinderwagen im Takt der Musik sacht hin und her.

Blätterpause. Fünf erste Geigen, vier zweite, drei Bratschen, zwei Celli, ein Kontrabaß fummeln die Wäscheklammern von den Noten, versuchen das Papier zu bändigen, ohne daß dabei alles zu Boden geht. Der Wind ist das Schlimmste. Er bringt die Noten durcheinander und die Töne auch, trägt sie so weit davon, daß von Vivaldis Fülle nicht viel übrigbleibt.

Der Dirigent verströmt lächelnde Zuversicht. Seine Hände schweben über den Köpfen der Streicher, als solle es jeden Augenblick weitergehen. Die Musikliebhaber aus Wesel, Kleve, Kevelaer werden unruhig: Hätte man vielleicht doch klatschen sollen an dieser Stelle? Aber da zieht Thomas Brezinka geräuschvoll Luft durch die gespitzten Lippen, als wolle er Konzentration einsaugen, verharrt noch einen winzigen Moment, bevor er anhebt, mit beiden Händen Vivaldis nächsten Satz aus seinen Streichern herauszukneten. Die Zuhörer entspannen sich. Man kennt sich aus. Man gehört nicht zu den Banausen, die mitten im Satz drauflosklatschen.

Der Wind rupft die Noten und trägt die Töne davon

Wieder einmal hat es mit der Vorbereitung nicht geklappt wie abgesprochen. Der örtliche Kurverein hat keine Plakate geklebt. Der Referent des Kreises hat Bürgermeister, Mäzene, Kunsthandwerker begrüßt, aber den musikalischen Teil des Abends verschusselt. Gut, daß Projektleiterin Annette Neuhaus-Becker nicht nur an Wäscheklammern gedacht hat, sondern auch ans Aushängeschild: fünfzig mal einsfünfzig, stilisierter Kontrabaß auf grau-weißem Grund, Ensemble Niederrhein. Die Malerinnung Kevelaer hat das Schild gestiftet, statt Gage.

Jedenfalls hat Annette Neuhaus-Becker heute abend wieder was gelernt. Seit Jahresbeginn managt die 33jährige ein 16köpfiges Arbeitslosenorchester. Der Musikbetrieb ist Neuland für die studierte Kunsthistorikerin, die Anstellung ein Glücksfall. Bislang schlug sie sich mit Bürojobs durch. Die ABM-Stelle verschafft ihr Berufserfahrung im Kulturmanagement. Vom Abend in Marienthal nimmt sie neben einem Schnupfen die Erkenntnis mit, daß sie noch deutlichere Absprachen treffen wird und daß sie sich vor einem hüten muß: vor Freiluftkonzerten am Niederrhein.

„Einmal schon habe ich bei minus 18 Grad heraußen gespielt“, sagt Igor nach der zweiten Zugabe gleichmütig und reibt die weißen Knöchel seiner rechten Hand. Einen Wodka empfiehlt der Doktor der Musikwissenschaft seinen jungen Kollegen – besser aber zwei. Igor Bialy stammt aus Nowosibirsk und gehörte früher in Rußland einem berühmten Klaviertrio an. Beim Ensemble Niederrhein spielt der 59jährige seit Januar Cello – virtuos, wie sein junger Dirigent Thomas Brezinka versichert.

Auch Brezinka nimmt den Flop mit Humor. Vergnügt klemmt er hinter dem Steuer des gesponserten Kleinbusses und gibt Anekdoten über seine Streicher zum besten, als würde er sie schon jahrelang kennen. Über Walentin Babiarof zum Beispiel. Bis 1989 lebte der heute 50jährige in der Sowjetunion. Er war dort ein berühmter Geiger, drei Dokumentarfilme sind über ihn gedreht worden. Warum er dennoch nach Deutschland kam? Babiarof zieht die Schultern hoch. „Ah, unwichtige Kleinigkeiten. Darüber spreche ich nicht.“ Dann lacht er. „Natürlich wußte ich, daß Thomas im Jahre 1997 dieses wundervolle Orchester aufbauen würde. Deshalb kam ich nach Deutschland.“ Daß Thomas im Jahre 1997 dieses wundervolle Orchester aufbauen würde, wußte er im November 96 selber noch nicht. Gleich nach der Wende hatte der österreichische Dirigent und Musikwissenschaftler das Kammerorchester Wernigerode übernommen. 29 Jahre war er damals. Aber die unbewegliche Verwaltung und die Angestelltenmentalität der Musiker behagten ihm nicht. Also kehrte er Wernigerode vier Jahre später den Rücken und fing eine weitere Ausbildung an – zum Kulturmanager. Als Abschlußarbeit entwickelte er ein Konzept für Leute wie sich selbst, arbeitslose Musiker. Die Idee: das Arbeitsamt finanziert eine zweijährige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für alle Orchestermitglieder. Eine aufgeschlossene Kommune übernimmt die Trägerschaft und stellt Räume und andere Sachmittel zur Verfügung. Innerhalb von zwei Jahren spielt sich das junge Orchester so nach vorn, daß weitere Engagements folgen und ein finanzkräftiger Sponsor gewonnen werden kann.

Der Künstlerdienst des Arbeitsamtes, angesiedelt beim Landesarbeitsamt Düsseldorf, erwärmte sich für Brezinkas Konzept. Auch ein Träger schien gefunden: die Zeche Zollverein in Essen. Aber dann machten die Essener einen Rückzieher. Begründung: zu hohe Kulturdichte auf dem ersten Arbeitsmarkt.

Das Jahr 1996 wurde aufregend für den AB-Dirigenten in spe – ein Wechselbad zwischen Zuversicht und Enttäuschung. Dann passierte alles auf einmal. Die Wallfahrtsstadt Kevelaer am Niederrhein sah keine Probleme mit ihrer Kulturdichte. Sie wünschte sich ein Häppchen weltliches Flair und bot Trägerschaft und Räume an. Düsseldorf bewilligte AB-Maßnahmen für 16 Musiker und zwei Organisatorinnen. Bedingung: Alle mußten mindestens seit einem Jahr arbeitslos und in Nordrhein-Westfalen gemeldet sein. Mit den Musikern, die diese Voraussetzung erfüllen, hätte man mehrere Sinfonieorchester auf die Beine stellen können. Drei volle Tage lauschten Dirigent und Arbeitsberater dem immer gleichen Solostück – 40mal.

Die beste Idee hatte der Dirigent selbst

Einige Bewerber hatten 20 Jahre nicht mehr auf dem Präsentierteller gesessen. „Eigentlich werden Berufsmusiker bis sie 30 sind, höchstens 35, zum Probespielen eingeladen. Später, glaubt man, können sie mit der Beweglichkeit der Jungen nicht mehr mithalten“, erklärt Thomas Brezinka.

Mit 40, spätestens, läßt die Fingerfertigkeit nach. Bläser altern noch früher, sie verlieren die Spannkraft in den Lippenmuskeln. Typische Berufskrankheiten stellen sich ein: Bei Streichern verursacht die einseitige Belastung und die verkrampfte Haltung Gelenkrheumatismus, Rückenprobleme, chronische Entzündungen in der Halsbeuge. Bläsern macht oft ihr Unterkiefergelenk zu schaffen.

Ein Orchestermusiker muß mit 35 Jahren einen krisensicheren Arbeitsplatz gefunden haben – oder er findet ihn überhaupt nie mehr. Aber krisensichere Arbeitsplätze für Musiker sind selten geworden. Die Finanznot bei Städten, Ländern und öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten hat ein großes Orchestersterben ausgelöst. Erfahrene, altgediente Musiker, die bislang schlimmstenfalls an die hinteren Pulte verbannt wurden, wenn virtuose junge Kollegen nachdrängten, sind nun arbeitlos – 1.200 waren 1996 bei den Arbeitsämtern gemeldet, noch einmal so hoch wird die verdeckte Arbeitslosigkeit geschätzt.

Spezielle Betreuung, die bei Projekten mit Langzeitarbeitslosen oft Voraussetzung ist, brauchen Brezinkas Musiker nicht. „Sie hatten ja immer ihr Instrument. Hätten sie nicht regelmäßig weitergeübt, hätten sei beim Probespiel gar nicht bestehen können.“ Er spricht wohl aus bitterer Erfahrung, wenn er sagt: „Andere kleine Orchester liefern ihr Zeug ab, legen da nichts mehr rein ... Uns schweißt die Not zusammen. Wir wissen, wir müssen gut sein, sonst gehen wir unter.“

Gabor Kiss war Konzertmeister beim Sinfonieorchester Solingen. Die Fusion mit dem Remscheider Stadtorchester kostete den gebürtigen Ungarn seinen Arbeitsplatz. Der 52jährige ist auf dem freien Arbeitsmarkt ebenso chancenlos wie Genoveva Gölle aus Siebenbürgen. Sie verlor ihre Stelle als Geigerin, als Oberhausen sein Orchester dichtmachte.

Zwei Jahre Schonfrist und jede Menge Arbeit

Axel Kühne hat mit seinen 35 Jahren schon acht Jahre Orchestererfahrung bei den Jenaer Philharmonikern vorzuweisen. Seit seiner Flucht aus der DDR im Mai 89 hat er sich als Urlaubsvertretung über Wasser gehalten – kein schlechtes Leben, wie er findet. Aber ein festes Engagement bringt ihn künstlerisch weiter und bedeutet zwei Jahre Sicherheit.

Nach Musikermaßstäben hat das Arbeitsamt das Ensemble Niederrhein großzügig ausgestattet. Knapp 5.000 Mark bekommt jeder, fast drei Millionen kostet die ganze Maßnahme. „Vielleicht ist das der Grund, daß wir neunmal die Woche gemeinsam proben müssen“, überlegt Axel laut. „Damit die Leute in Kevelaer auch sehen, daß wir was tun für unser Geld.“

Natürlich gibt es Neid bei freien Kollegen. Manche haben die Sorge, das subventionierte Orchester könnte mit Dumpingpreisen den freien Ensembles Tourneeplätze wegschnappen. 4.000 Mark bezahlte der Kulturverein Marienthal für 90 Minuten erstklassige Kammermusik. Müßte das Ensemble von den Gagen leben, würde ein Auftritt mehr als das Doppelte kosten.

Die Notlandung auf dem zweiten Arbeitsmarkt bedeutet zwei Jahre Schonfrist. Sie verlangt aber auch ein neues Berufsverständnis. Der Schwerpunkt bei AB- Maßnahmen soll im sozialen Bereich liegen – das gilt auch für Musiker. Keinesfalls soll das Ensemble Niederrhein freien Orchestern das Wasser abgraben. In Schulen spielen sie, machen für Kinder Musik im Museum Kevelaer, in Altenheimen sind sie zu Gast. „Da soll man sich nicht drüber erheben“, sagt Brezinka mit großem Ernst. „Wenn man die alten Leute sieht, das ist vielleicht das letzte Konzert in deren Leben, das ist bewegend.“

Der junge Österreicher ist alles andere als ein Karajan in Kleinformat. Brezinka ist ein Allrounder mit ganz handfestem Kulturbegriff – und mit Idealen. „Das fasziniert mich am Dirigieren am meisten, daß es nicht kommerzialisierbar ist. So ein Konzert läßt sich nicht rationalisieren, verkaufen, optimieren – es ist ein Ereignis des Augenblicks, jedesmal neu und jedesmal anders.“

Ab 1. Januar 1999 wird der gelernte Kulturmanager aber doch versuchen müssen, Kunst und Kommerz zu versöhnen. Dann ist die Schonfrist vorbei, dann muß das Ensemble Niederrhein auf eigenen Füßen stehen. Hans-Josef Kuypers, Chef der Wirtschaftsförderungs-Gesellschaft Kevelaer, läßt keinen Zweifel aufkommen: Auch die städtische Unterstützung bleibt auf zwei Jahre befristet.

Mit „kontinuierlicher Arbeit, Bescheidenheit, Geduld und Optimismus“ will Brezinka es schaffen. Und „ohne diese deutsche Urangst, daß man immer gleich wissen will, wie es weitergeht“. Optimismus wird der Chef auch brauchen. Wie soll er sonst das Kunststück hinbekommen, sein Orchester zum Stichtag für den freien Markt fit zu machen, ohne dem freien Markt bis dahin Konkurrenz zu sein? Der Österreicher grinst und läßt seinen Blick schweifen über Boris, den jüdischen Kontrabassisten von der Wolga, über Genoveva aus Rumänien, Willi aus Sibirien, Doktor Bialy aus Nowosibirsk – über seine ganze bunte Truppe slawisch-jüdisch-deutschen Ursprungs. Wie sie es schaffen sollen? Was für eine urdeutsche Frage das doch ist.

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