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Im letzten Moment fort, nur fort

■ „Untergetaucht“von Gert Koppel – Wie ein Hamburger die Nazi-Zeit in Belgien überlebte

Im letzten Moment erreichten Gert Koppel und seine Schwester den Zug, der sie 1939 nach Belgien brachte. Im letzten Moment konnten sie aus dem nationalsozialistischen Deutschland fliehen.

„Im letzten Moment“lautet auch die Überschrift des ersten Kapitels: „Wir rannten los und erwischten gerade noch das Trittbrett des letzten Waggons. Der Zug setzte sich in Bewegung. Wir hatten es geschafft.“

In der Freude, „die verhaßten Nazi-Uniformen“hinter sich lassen zu können, mischten sich die Sehnsucht nach den in Hamburg gebliebenen Eltern, Wut und Haß und ohnmächtiges Unverständnis: „Was habe ich euch eigentlich getan? ... Deutschland war doch meine Heimat, das Land, in dem ich geboren wurde, das Land, dessen Sprache ich sprach, ich, ein deutscher Junge wie jeder andere ... Warum muß ich, der elfjährige Gert Koppel, plötzlich mein vertrautes Hamburg verlassen?“

So beginnen die 240 Seiten umfassenden Erinnerungen des heute in San Diego/Kalifornien lebenden Gert Koppel, die unter dem Titel Untergetaucht. Eine Flucht aus Deutschland im Kinder- und Jugendbuchverlag Arena erschienen sind.

Gert Koppel wurde am 21. Dezember 1927 in Hamburg geboren. Sein Elternhaus stand in der Klosterallee. Im April 1934 wurde er in der Talmud-Tora-Schule am Grindelhof eingeschult. Gert Koppel stammt aus einer assimilierten jüdischen Familie, der „die jüdische Religion ... eher nebensächlich“war, deren Kinder aber „aus Gründen der Tradition in eine jüdische Schule gingen“, auch wenn sie bei Schulanfang „kein Wort Hebräisch“konnten.

Sehr schnell wird der (hoffentlich nicht nur jugendliche) Leser dieses Buches mit einer sich rasch verändernden, einstmals vertrauten Lebensumwelt konfrontiert, die nach 1933 aus Nachbarn Juden machte. Eine Kinderfreundschaft geht in die Brüche. Die Begründung: „Mit Juden wollen wir nichts mehr zu tun haben.“Den Vater, dessen Geschäfte sich zusehends verschlechtern, traf es genauso: Der begeisterte HSV-Anhänger kommt vorzeitig vom Sportplatz Rotherbaum zurück, weil das Schild „Juden unerwünscht!“ihm den Zutritt versperrte.

Der Schulweg Gert Koppels war keineswegs mehr sorglos, das entsprechende Kapitel, das die antisemitischen Pöbeleien und Überfälle beschreibt, trägt die Überschrift „Angst auf der Rutschbahn“. Angst blieb auch weiterhin die bestimmende Alltagserfahrung. Die Kapitelüberschriften lauten nun „Die Welt wird kleiner“, „Es wird ernst“und „Eine schlimme Nacht“.

Nach den Synagogen-Schändungen, den wüsten Hausdurchsuchungen und gezielten Verhaftungen im November 1938 konnte es nur noch „Fort, nur fort“heißen. Auswanderung bzw. „Kindertransport“hießen von nun an die Losungsworte. Im Januar 1939 erhielt die Familie Koppel von Verwandten in Brüssel einen Brief, der wenigstens für die Kinder Gert und Ilse ein belgisches Visum garantierte.

Mit im Paß eingestempeltem „J“konnten sie Hamburg verlassen – mit der unmenschlichen Auflage für die Eltern, sich nie um die Einreise nach Belgien zu bemühen.

Für kurze Zeit war es Gert Koppel vergönnt, eine sorgenfreiere Jugend zu erleben. Er ging in Antwerpen zur Schule, konnte ins Kino gehen, lesen, was er wollte. Die Mutter kam – aber nur für zwei Tage, da sie durch glückliche Umstände eine Einreiseerlaubnis nach England erhalten hatte. Durch bezahlte Schlepper gelang es auch dem Vater, schwarz über die belgische Grenze zu kommen. Trotz der Angst vor Grenzpatrouillen habe er sich dabei „sicherer gefühlt als in den letzten Jahren in Hamburg“.

Doch auch diese Sicherheit fand am 10. Mai 1940 durch den Überfall deutscher Truppen auf Belgien ein gewaltsames Ende. Nach mißglücktem Fluchtversuch bis nach Nordfrankreich, dem knappen Überleben von Tieffliegerangriffen, kehrten Vater, Tochter und Sohn wieder nach Antwerpen zurück. Als 1941 in Belgien der gelbe Stern für alle Juden angeordnet und seit Sommer 1942 auch dort die Deportationsbefehle für den „Arbeitseinsatz im Osten“zugestellt wurden, konnten Gert Koppel, seine Schwester und sein Vater dank der Hilfe evangelischer Pastoren untertauchen. Das Versteck mußte oft gewechselt, eine gefälschte Identitätskarte besorgt werden. Aus Gert Koppel wurde Gérard Dubois.

Glauben, Mut und Opferbereitschaft seiner christlichen Helfer verdankt Gert Koppel sein Überleben und das Erlebnis der Befreiung: „Das Wunder war geschehen: Nach 26 Monaten im Versteck konnten wir endlich wieder auftauchen.“

Gert Koppels als Jugendbuch veröffentlichte Erinnerungen reihen sich ein in die Reihe der Berichte von Lucille Eichengreen, Ralph Giordano, Ingeborg Hecht, Flora Neumann, Heinz Rosenberg und Käthe Starke. Sie alle sehen sich nicht als „Opfer“, sondern zuerst und bis heute als glücklicherweise Überlebende der deutschen Judenverfolgung.

Wilfried Weinke

Gert Koppel: „Untergetaucht. Eine Flucht aus Deutschland“, Würzburg 1997, Arena-Verlag, 238 S., 29.80 Mark

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