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Die rot-graue Qual mit der Wahl

■ Stolpert die Kooperation über den Streit ums neue Wahlrecht? Achim Reichert (Fraktions-vorsitzender Statt Partei) und Jan Ehlers (stv. Fraktionsvorsitzender SPD) im Streitgespräch

taz: Mehr Demokratie im Wahlrecht – das wollen sowohl Statt Partei als auch SPD. Welches Wahlrecht ist denn nun demokratischer?

Achim Reichert: Wir sind für das Zweistimmen-Wahlrecht, damit der Wähler mit der ersten Stimme seine Wertschätzung für einen bestimmten Kandidaten ausdrücken kann und mit der Zweitstimme die Sympathie für eine bestimmte Partei. Mit dem Einstimmen-Wahlrecht wird hingegen ein Automatismus eingeführt: Kandidat und Partei werden nicht mehr voneinander zu trennen sein.

Jan Ehlers: Mehr Demokratie entsteht durch die Einführung von Wahlkreisen, in denen Direktkandidaten antreten. Darin sind sich alle einig. Wir sind für das Einstimmen-Wahlrecht in Wahlkreisen, weil wir das Argument, daß die Menschen freie, unabhängige, beherzte, außergewöhnliche Menschen unabhängig von ihrer Partei wählen, nicht glauben. Gesplittet wird nie zwischen den kleinen Parteien. Wer seine wichtige Zweitstimme einer kleinen Partei gibt, versucht mit seiner Erststimme den Ausschlag dafür zu geben, welcher Kandidat der großen Parteien gewinnt.

Reichert: Herr Ehlers, Sie schießen sich mit Ihren Argumenten in die eigene Kniescheibe! Wenn die Wähler der großen Parteien gar nicht differenzieren zwischen Direktkandidat und Parteiliste, warum sind Sie dann gegen das Zweistimmen-Wahlrecht? Dann könnten Sie ja völlig leidenschaftslos sagen, es schadet uns ja nichts. Aber Sie sind ja höchst leidenschaftlich. Wenn ich Ihre Presseerklärung lese, geht mir geradezu das Messer in der Hosentasche auf!

taz: Warum?

Reichert: Wir haben in unserer Kooperationsvereinbarung stehen, daß eine gründliche Verfassungsreform auf der Grundlage der Empfehlung der Enquete-Kommission vorgenommen wird, die zu mehr Bürgernähe und -mitwirkung führen soll. Als Mitglied der Enquete-Kommission war Herr Ehlers noch für das Zweistimmen-Wahlrecht. Erklären Sie mir mal, was zu Ihrem Gesinnungswandel geführt hat.

Ehlers: Da bekenne ich ganz offen, daß ich zu dem Zeitpunkt – wie viele andere – gar nicht gewußt habe, daß es die Möglichkeit des Einstimmen-Wahlrechts bei Wahlkreisen überhaupt gibt.

Reichert: Da stellen Sie aber Ihr Licht unter den Scheffel! Unwissenheit nehme ich Ihnen als erfahrenen Politiker nicht ab.

taz: Sie werfen sich gegenseitig Eigennutz vor, als ob keiner auch parteipolitische Interessen hätte.

Ehlers: Politische Parteien haben nun mal Interessen - und Wähler auch. Wir sind uns allerdings darin einig, daß alle Wahlverfahren demokratisch sind.

Reichert: Stimmt. Aber einige sind demokratischer als andere!

Ehlers: Das Demokratischste wäre natürlich, alle Hamburger würden sich auf den Rathausmarkt hinstellen, abstimmen und Herr Voscherau zählt vom Balkon aus die Stimmen. Wir haben aber eine repräsentative Demokratie, und bei der Parlamentsreform geht es darum, dieses System mit direkter Demokratie anzureichern, zum Beispiel mit Volksbegehren und Volksentscheid.

taz: Sie bekennen sich also offen dazu, daß die SPD sich wegen des eigenen Vorteils für das Einstimmen-Wahlrecht einsetzt?

Ehlers: Die große Mehrheit der SPD-Wähler hält nichts davon, daß andere Wähler, die in der Hauptsache anders entscheiden, mit der Erststimme das Ergebnis verfälschen.

Reichert: Das halte ich in der Tat für eine erstaunliche Aussage: Das hieße ja, daß die SPD Erststimmen zugunsten ihrer Direktkandidaten ablehnt, wenn man nicht auch die Partei wählt. Kann die SPD denn so aus dem vollen schöpfen?

taz: Herr Reichert, was sagen Sie denn zu dem SPD-Vorwurf, daß Sie „aus kleinster Wählergunst größten Einfluß herausschinden“ wollten?

Reichert: Den Schuh ziehe ich mir überhaupt nicht an. Das Zweistimmen-Wahlrecht bevorzugt die kleinen Parteien nicht, sondern das Einstimmen-Wahlrecht benachteiligt sie, weil sie dann als unabdingbare Voraussetzung in jedem Wahlkreis einen Kandidaten aufstellen müssen. Beim Zweistimmen-Wahlrecht ist das offen. Herr Ehlers zeigt eine Angst vor unklaren Mehrheitsverhältnissen. Ist denn die Zusammenarbeit mit der Statt Partei so schrecklich gewesen, daß sie ein Trauma davongetragen haben?

Ehlers: Ich will die Kooperation, so wie vereinbart, verläßlich über die ganze Legislaturperiode erfolgreich sehen.

taz: Herr Reichert, man wirft Ihnen vor, den Krach um das Wahlrecht provoziert zu haben, um in der Statt Partei endlich mal wieder Einigkeit herzustellen.

Reichert: Wir haben das Thema gar nicht aufgebracht, sondern die SPD. Vielen Dank, Herr Ehlers.

taz: Sie sind beide entschlossen, beim Wahlrecht nicht nachzugeben. Wie soll es weitergehen?

Ehlers: Bei der Parlamentsreform gibt es noch mehr kontroverse Punkte, über die am Ende der Beratungen entschieden wird.

Reichert: Nein, wir werden nicht nachgeben. Ich glaube auch nicht, daß es für das Image der großen Parteien gut wäre, sich gegen die Statt Partei und die GAL durchzusetzen.

taz: Wird die Kooperation über den Streit ums Wahlrecht stolpern?

Ehlers: Nein.

Reichert: Die SPD hat das Thema aufgebracht, und die SPD möge sich überlegen, wie sie die Kuh vom Eis bekommt.

Moderation: Silke Mertins

Fotos: Henning Scholz

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