Die mit dem Schlimmsten rechnen

Überrascht uns der GAU, sind wir mit Lebensmittelreserven gerüstet: 4 Mitarbeiter der Senatsverwaltung und 14.000 Helfer regeln die Versorgung  ■ Von Gudula Hörr

Wie sie genau aussehen, ist streng geheim. Gut verschlossen lagern sie in den Bezirksämtern, fälschungssicher, unsichtbar bis zum Tag X. Erst dann, nach Eintritt der Katastrophe, werden sie aus den Schränken hervorgekramt: Millionen Lebensmittelkarten, die im Notfall die Versorgung der Berliner regeln sollen.

Für den Fall der Fälle ist Berlin gut gerüstet. Vier Mitarbeiter der Finanzverwaltung planen seit Jahren, was bei einer Havarie zu tun ist. Sie besuchen Lehrgänge und instruieren die 23 Notfallreferenten, die es in jedem Bezirk gibt. Sie verwalten die großen Lager mit Lebensmittelreserven und klären die Bevölkerung auf. Und sie mahnen die Berliner, Konserven, Wasser, Löschsand und Helme in ihren Vorratskammern zu horten.

Daß jeden Tag eine Katastrophe über die Hauptstadt hereinbrechen kann, davon ist Hans-Jürgen Gaudeck, Notfallexperte bei der Finanzverwaltung, überzeugt: „Unsere Gesellschaft ist krisenanfällig, ein GAU wie bei Tschernobyl kann durchaus wieder passieren.“ Allein im Osten stünden 20 marode Kernkraftwerke, und auch im Westen gebe es schließlich Kerntechnik. Und dann sind da ja noch Chemieunfälle, Schneewehen, Überflutungen, Epidemien. „Notfälle“, glaubt auch Michael Wehran, Sprecher der Finanzverwaltung, „sind so bunt wie das Leben.“ Einzig der Krieg kommt in den Katastrophenszenarien der Notfallexperten bislang nicht vor.

Sollte es in Berlin zu einer Katastrophe kommen, muß laut Gesetz zunächst die Bundesregierung die Versorgungskrise ausrufen. Dann organisieren die Senatsverwaltung und die Notfallreferenten alles weitere: 14.000 Mitarbeiter der Bezirksämter verteilen in Schulen und Kitas die Lebensmittelkarten, mit denen allein sich dann bestimmmte Produkte wie Butter, Milch oder Zucker erstehen lassen. Besonders Bedürftige wie Kinder und Rentner erhalten über Großküchen vom DRK und der Arbeiterwohlfahrt Reis, Hülsenfrüchte und Kondensmilch. Im Moment lagern diese Vorrätem, die für knapp zwei Wochen reichen, in großen Hallen im Berliner Umland. Zudem sind noch rund 30.000 Tonnen Getreide in Berlin gebunkert. Bei einer Verknappung der Lebensmittel in den Supermärkten und Läden sollen diese in den Handel geschleust werden. Mit den Blockadebeständen West-Berlins haben diese Notfallvorräte allerdings nichts zu tun. Die Reserven der einstigen Inselstadt, die von Brillen über Klopapier bis zu Bremsbelägen reichten und Berlin für ein halbes Jahr versorgen sollten, waren nach der Wende schnell aufgelöst und dem zerfallenden Reich des Bösen gespendet worden. Danach mußte sich Berlin, wie jedes Ballungszentrum in der Bundesrepublik, aufgrund des Ernährungsvorsorgegesetzes erneut für den Notfall rüsten: mit der zivilen Notfallreserve und Interventionsbeständen.

„Leider reichen diese Bestände nicht sehr lang“, klagt Gaudeck. Bis bei einer Havarie die Versorgung durch andere Bundesländer funktioniert, rechnen die Katastrophenexperten mit einigen Wochen. Gaudeck kämpft deshalb seit langem für mehr Notfallreserven. Auch medizinische Güter wie Jodtabletten, bei einem Nuklear- GAU existentiell, sollten seiner Meinung nach viel mehr eingelagert werden.

Daß die Reserven wesentlich aufgestockt werden, mag der gelernte Betriebswirt, der früher die Berlin-Reserven verwaltete und der stets mit dem Schlimmsten rechnen muß, allerdings selbst nicht so recht glauben. Er setzt daher mehr auf Aufklärung der Berliner. Weshalb er bereitwillig Broschüren verteilt: „Für den Notfall vorgesorgt“. Ein Aufruf zum Hamstern: Lebensmittel für zwei Wochen, drei Wasserkästen, Chlorkalk, Torfmull, so der Appell, sollte jeder besitzen. Ebenso Sägemehl, Spirituskocher und Augenklappen. Und Helm, Schutzbrille sowie einen Schutzraum im Keller. Ob dieser Aufruf tatsächlich zum Bunkern anregt, können die Notfallexperten nur hoffen. Und sich dabei mit dem Gedanken trösten, daß die Berliner, in Mauerzeiten konditioniert, eh zum Hamstern neigen.