■ Mitteleuropa war in den 80ern eine Utopie. Heute ver- handelt man über den EU-Beitritt osteuropäischer Staaten: Europa: Rückblick auf eine Träumerei
„Was die europäische Gesellschaft betrifft, so ist sie tatsächlich bis in die Mikrostruktur hinein irregulär, und der Versuch, hier im traditionellen Sinn Ordnung zu schaffen, ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Das gilt auch für die staatsrechtliche Konstruktion der Gemeinschaft. Sie können allenfalls gewisse Grenzwerte festlegen. Das Mischmasch ist unsere endgültige Gestalt.“
Dieses Zitat entstammt nicht einem aktuellen Kommentar, der dem dickleibigen, von Jacques Santer gestern präsentierten Bericht zum Osterweiterungsprojekt der EU gewidmet wäre. Hier ergreift Erkki Rintala das Wort, eine Phantasiefigur aus Hans Magnus Enzensbergers „Ach Europa“. Der rüstige Pensionär, vormals Ratspräsident der Europäischen Union, sinniert zu Beginn des dritten Jahrtausends über den gescheiterten Versuch, Europa in einen Superstaat umzumodeln. Enzensbergers Buch erschien 1987 und war ein Loblied auf Vielgestaltigkeit, Unübersichtlichkeit und Kleinteiligkeit. Enzensberger wußte sich damals einig mit Freunden in Prag, Budapest und Warschau. Die ostmitteleuropäischen demokratischen Intellektuellen befürworteten damals durchweg die (west)europäische Einigung. Aber sie verwarfen die Gleichung Westeuropa = Europa. Sie taten das nicht nur mit Argumenten, die einer vormals gemeinsamen Kultur entlehnt waren. Sie kamen nicht als Bittsteller, sie boten eine Mitgift an: Erfahrungen und Werte, gesammelt in vierzig Jahren realem Sozialismus.
Mit dem gemeinsamen Nachdenken über Gesamteuropa, was es ist und wie es sein sollte, ist es heute vorbei. Jacques Santer präsentiert sein „avis“, Hans Magnus Enzensberger und György Konrad schweigen. Nun könnte man diese Tatsache umstandslos abtun mit der Bemerkung eines großen deutschen Sozialphilosophen, wonach sich die Ideen stets vor den Interessen blamieren. Der EU-Beitritt ist für die Länder des ehemals sowjetischen Machtbereichs Staatsräson, ein fast allgemein geteilter Konsens. Obwohl in der ostmitteleuropäischen Region kaum ein Mensch weiß, was die europäischen Institutionen sind, wie sie funktionieren – und wie sie die frisch gewonnene nationalstaatliche Souveränität beschneiden. Der Grund für diese Übereinstimmung ist einfach: Man erwartet die Angleichung an die Lebensverhältnisse des Westens, die „Konvergenz“. In der Einschätzung der Ökonomen wird dieser Effekt zwar nur in mehr als einem Dutzend Jahren eintreten und dann auch nur zu fünfzig Prozent. Und das auch nur, wenn eine Reihe von Indikatoren, vor allem die Wachstumsrate, den Erwartungen entsprechen. Aber schon diese Aussicht reicht hin, um die kritische Phantasieproduktion einzustellen.
Werfen wir verständnishalber einen Blick auf die Grafiken, die die Deutsche Bank im März 1997 zur ökonomischen Situation der osteuropäischen Länder veröffentlichte. Zu sehen sind kreisförmig angeordnete Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung, innere Kreise zeigen die jeweilige Abweichung vom errechneten Durchschnittswert an. Am besten schneiden die Länder ab, die sich ohne Zacken und Ausschweifungen ordentlich um den Mittelpunkt des Kreises gruppieren. Slowenien, sehr ordentlich, Bulgarien – ein abscheulicher Anblick! Klar, daß Santers Urteile von der gleichen ökonomischen Rationalität geprägt sind. Ebenso klar, daß gegen diese rationalen, homogenisierten Karten nicht die zerklüftete europäische Landkarte der Intellektuellen aus den achtziger Jahren gehalten werden kann. So what?
Die gestrige Inszenierung von Straßburg weist eine verzweifelte Ähnlichkeit mit einer Versammlung heruntergekommener Kids auf, die der Ergebnisse der Aufnahmeprüfung in ein vornehmes Internat harren. Nur daß es keine Stipendien geben wird. Um naheliegenden Einwänden zuvorzukommen, wurden auch Noten für demokratisches und rechtsstaatliches Verhalten erteilt. Der Rowdy Slowakei, obwohl begabt, wird wegen schlechten Betragens nicht aufgenommen. Slowenien muß etwas schärfer gegen Korruption vorgehen, Estland, ansonsten ein künftiger Musterschüler, ist gemein zu seiner russischen Minderheit usw. Hätten sich die Brüsseler wenigstens auf die Ökonomie beschränkt. Es ist dieser wohlmeinende paternalistische Grundzug in der Beurteilung des Zustands der Gesellschaften, der Empörung auslösen müßte – aber es nicht tut. Als ob die Mitglieder der EU- Kommission einen Crashkurs in Habermas' „Nachholender Revolution“ absolviert hätten, ignorieren sie souverän, was die demokratischen Revolutionen von 1989 vielleicht Neues, auch für den alten europäischen Westen Empfehlenswertes zur Welt brachten.
Worin bestand dieses Neue, das jetzt so unsichtbar, so verschüttet scheint? Ohne die gravierenden, aus der Geschichte wie den konkreten Verlaufsformen der Revolutionen von 89 stammenden Unterschiede einebnen zu wollen, läßt sich doch verallgemeinernd festhalten, daß überall eine emphatische Vorstellung von den Menschenrechten, mit der „Würde“ als Zentralbegriff, fundamental war. Hinzu trat die Idee eines Republikanertum, das die Begründung der Freiheit („constitutio libertatis“) ins Zentrum des Umwandlungsprozesses zu Demokratie und Markt stellte. Diese Demokratie sollte von der Idee der Selbstorganisation inspiriert sein, von einer „Civil Society“ als Tätigkeitsraum zwischen Privatheit und anonymer Großorganisation. Und schließlich sollten über Zusammenschlüsse zwischen Regionen, Städten und Staaten auch jenseits nationalstaatlicher Grenzen nachgedacht werden, um so ein vielgestaltiges Europa zu erhalten.
Daß diese schönen Dinge außer Kurs gerieten, bedeutet noch lange nicht, daß sie dem kollektiven Gedächtnis der Völker Ostmitteleuropas endgültig entfallen sind. Spätestens wenn es um die politische Hardware der Beitrittsverhandlungen geht, werden sie wieder auftauchen. Dann werden sich die Brüsseler Unterhändler mit Forderungen herumschlagen müssen, wie sie beispielsweise der tschechische Philosoph und Bürgerrechtler Jaroslav Sabata kürzlich formulierte: „Wenn Europa am Ende des 20. Jahrhunderts eine konsistente Vorstellung von Universalität entwickeln will, die lebenden Quellen entspringt, dann muß die Idee einer ,starken Führung‘ erneuert werden, aber nicht als eine etwas verfeinerte Form des Hegemonismus. Vielmehr muß sie daraus erwachsen, daß schrittweise alle internen Hegemonismen im Namen einer tieferen Demokratisierung überwunden werden.“ Christian Semler
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