Der Mörder ist immer der Autor

■ Neu im Kino: „Der Polygraph“/ Kinomord als Kopfgeburt

„Polygraph“ist der Fachausdruck für einen Lügendetektor. Und damit auch der letzte Zuschauer sofort diese Zentralmetapher seines Filmes erkennt, setzt der kanadische Regisseur und Theaterautor Robert Lepage gleich in der ersten Szene seinen Filmhelden François an solch ein Gerät – zu einem Test, der belegen soll, ob er seine Freundin umgebracht hat. Aber die Werte sind nicht eindeutig, und so muß sich François weiter als Hauptverdächtiger durch den Film quälen. Als ob dies nicht schlimm genug wäre, dreht eine seiner Bekannten auch noch einen Spielfilm über just den Mordfall, in den er verwickelt ist. Damit nicht genug der absurden Querverbindungen: Denn ausgerechnet seine Nachbarin wirkt als Schauspielerin bei diesem Film im Film in der Rolle des Mordopfers mit. Kein auch nur halbwegs solide an seinem Plot schnitzender Krimiautor würde mit solch einer abstrusen Prämisse arbeiten. Aber bei Lepage sind wir nicht im Genre-, sondern im Kunstkino, und da nimmt man es mit der inneren Logik und Plausibilität einer Mordgeschichte nicht so genau, wenn man nur möglichst kunstvoll über die Meta-Ebenen schlittern kann.

Und dies macht Lepage hier so hemmungslos und kryptisch, daß man schnell Geduld und Interesse daran verliert, auf welcher Reflektionsstufe der Regisseur uns gerade belehrt. Wie die Schauspielerin damit umgeht, eine tatsächlich Ermordete zu spielen; wie die Regisseurin versucht, mit ihrer Fiktion (das ist nun schon die Fiktion einer Fiktion!) das Trauma des realen Mordes zu bewältigen; wie unser Held manchmal selber nicht mehr weiß, ob er lügt oder nicht – all das interessiert uns herzlich wenig, trotz aller filmischen Kunststücke (viel Zeitraffer, Wechsel von Zeit und Raum in einer Einstellung usw.). Die Filme von Lepages Landsmann Atom Egoyan sind ähnlich hirnlastig und labyrin-thisch, aber immerhin so originell, daß es immer spaßig bleibt, herauszufinden, was einem da überhaupt erzählt wird. Auch Lepage gelang dies zum Teil bei seinem ähnlich verschachtelten Debütfilm „Confessional“. Dort taucht nämlich, als Film im Film, Hitchcocks „I Confess“auf. Um dessen Dreharbeiten in Quebec hat Lepage damals seine Geschichte gesponnen. Solch ein schöner Grundeinfall fehlt hier, und deshalb werden in „Der Polygraph“Lepages Schwächen – seine leere Virtuosität und seine prätentiöse Geschwätzigkeit – schmerzhaft deutlich.

Alle Figuren sind bei ihm nicht viel mehr als wandelnde Thesen, und weil die Wiedervereinigung von Deutschland vor einigen Jahren gerade schick unter Intellektuellen war, gibt es in „Der Polygraph“auch einen Ostdeutschen im Exil, mit dem Lepage immer bequem den Bogen von der menschlichen Misere zur großen Politik schlagen kann. Für typisch ostdeutsch hält er übrigens eine strenge Dame, die Schubertlieder singt. Wie schludrig er im Grunde erzählt, wird dann bei der Auflösung deutlich: Lepage zieht seine Mörderin ganz unvermittelt aus dem Hut, ohne sich um solche Lapalien wie Motivation, Spuren oder die logische Abfolge der Tat zu kümmern. Aber gerade weil er den Plot so erbärmlich schlecht auflöst, gibt er dem Zuschauer unabsichtlich auf einer von ihm wohl übersehenen Meta-Ebene tatsächlich eine Erkenntnis mit auf den Weg. Die meisten Erzähler von Mordgeschichten kaschieren diese Grundwahrheit nur einfach viel besser als er: Bei jeder Mordgeschichte ist es der Verfasser, der entscheidet, wer lebt und stirbt. Es ist der Verfasser, der diese Macht willkürlich, meist gnadenlos und völlig ungestraft anwendet. Der Mörder ist immer der Autor. Wilfried Hippen

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