: Anatomie des Scheiterns
■ Grandiose Versager, fröhliche Verlierer und halbkriminelle Abzocker: In "Berliner Ökonomie" beschreibt Helmut Höge, wie die Stadt herunterkommt
Berlin, eine Summe aus gescheiterten Lebensläufen. So schreibt – wie ihn alle nennen – Höge über die Stadt in seinem Buch mit der Zweitüberschrift „Prols und Contras“. Schon immer kamen solcherlei drittklassige Konsorten von überall her an die Spree. Nach der Wende überschlug sich diese Entwicklung. Höge führt dazu nicht nur inkompetente Bankmanager und strafversetzte Beamte an, sondern läßt auch Gewerkschafter sprechen: „Jedenfalls beteuerte einmal ein IG-Metall-Pressesprecher, daß vor allem die ,schwierigen‘ und im Grunde fertigen Kollegen ,mit Alkoholproblemen und sonstwas‘ in den Osten gegangen seien.“
Dort angelangt, trafen sie auf eine in Jahrhunderten entstandene, eigenartige Mischung aus „begnadet Gescheiterten“ und – teils fröhlichen – Verlierern, die immer wieder versuchen, sich an ihren eigenen Haaren aus dem Morast zu ziehen. In der Regel ohne großen Erfolg. Höge erzählt von Rainer Rubbel, einem früheren Betriebsrat der inzwischen abgewickelten Ostberliner Glühlampenfabrik Narva. Der kommt gegen den im wesentlichen westgesteuerten Exitus seines Kombinats nicht an. Ebensowenig wie Betriebsrat Hanns-Peter Hartmann, dem auch ein Hungerstreik seinen Arbeitsplatz bei der Batterienfabrik Belfa/Batropa nicht rettet.
Ein klarer Beleg für die Hauptthese des Buches ist neben dem Bombenbauer und schließlich geschnappten Kaufhauserpresser Arno Funke alias Dagobert nicht zuletzt Hans-Jürgen Schmolcke. Der ehemalige Hausbesetzer aus Bremen und spätere Drucker in Südamerika kaufte eine Behälterfabrik bei Berlin. Er hatte die ungeheuer innovative Idee entwickelt, transportable Kleinbrauereien zu produzieren, auf daß alle BierfreundInnen ihren eigenen Gerstensaft direkt hinter dem Eigenheim herstellen können. Schmolcke, von Höge zunächst als leuchtendes Beispiel des Wirtschaftsaufschwungs präsentiert – angesichts des allgemeinen Elends atmet man unwillkürlich auf –, muß schließlich doch den Weg fast aller Hauptpersonen des Buches gehen: Konkurs. Leider verrät Höge nicht, warum.
Vielleicht, weil er keine Interpretation liefern will. Sein Motto hat Höge auf einer der ersten Seiten notiert: „Es gibt immer zu viel Deutung und nie genug Fakten – die Akte durch Deutung sind am gefährlichsten für die Freiheit.“
Trotzdem kann sich selbst der geneigte Leser des Eindrucks nicht erwehren, daß Dichtung und Wahrheit mitunter sehr dicht beieinanderliegen. Diese Leseerfahrung mag ihre Ursache in der von Höge verwendeten Kollagetechnik haben, die seine AnhängerInnen aus taz-Kolumnen namens „Normalzeit“ kennen, von denen auch einige zwischen den Buchdeckeln versammelt sind. Der Chronist, stets unterwegs in Hinterhöfen und Industriebrachen zwischen Berlin und Nowosibirsk, reiht Kleinkram an Mini-Information, Beobachtungssplitter an Hintergründe – heraus kommt ein Bild der Wirklichkeit, das nicht mit dem Bekannten übereinstimmen will.
So verknüpft Höge im Kapitel „Eckdaten der Glühbirnenforschung“ zwecks Erklärung des Narva-Niedergangs Äußerungen von Goethe und Einstein, Gedankenstückchen Bob Dylans und der Philosophin Gerburg Treusch- Dieter mit ökonomischer Hardware über das internationale Elektrokartell, dem die Ostberliner Konkurrenz schon immer ein Dorn im Auge war. Die Details muten mitunter so absurd an, und damit auch das Gesamtbild, daß sich Zweifel am Realitätsgehalt aufdrängen. Doch der Autor versichert: Jedes Körnchen sei ausrecherchiert – das habe die ehrwürdige Zeit vor dem Abdruck des Kapitels überprüft.
Berliner Ökonomie: So gesund wie die Heide?!
Was ist nun mit den florierenden Firmen, all den glücklichen Menschen, die in sauberen Wohnungen leben und einer sinnspendenden Beschäftigung nachgehen, die sie obendrein noch ernährt – bewegen auch sie sich in der halblegalen Vorhölle der Mafia, auf grauen Arbeitsmärkten, die langfristig nichts versprechen als Verelendung und Zynismus, und wissen es nur nicht? Ausnahmen bestätigen die Regel, würde der Autor wahrscheinlich sagen. Und Hoffnung ist nicht weit. Denn die „Berliner Ökonomie“ zeichnet sich aus durch „kalkulierte Verluste, d.h. durch Geschäfte (im allerweitesten Sinne) ohne abschätzbaren Gewinn und ohne Risiko“. Irgendwann erreicht der Niedergang ein stabiles Niveau, die Talsohle, auf der das Leben dann auch wieder Spaß macht.
Im Grunde sei die „Berliner Ökonomie genauso gesund wie, sagen wir“, so bilanziert Höge högetypisch, „die Lüneburger Heide oder Maastricht“. So schließt sich der große Kreis in seiner gesellschaftlichen Dimension, und die Deutung kommt doch wieder zu ihrem Recht – und das nicht zu knapp. Hannes Koch
Helmut Höge: „Berliner Ökonomie – Prols und Contras“. Basisdruck, Berlin 1997. 282 S., 28 DM
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