: "New York wäre ein Rückschritt"
■ Was kann die deutsche Polizei von den Kollegen in New York bei ihrem Kampf gegen die Kriminalität lernen? Interview mit Ingeborg Legge, Leiterin der Abteilung Kriminologische Forschung im Landeskriminalamt
Der New Yorker Polizei ist es in den vergangenen vier Jahren gelungen, die Kriminalitätsrate um fast die Hälfte zu reduzieren. Innenpolitiker und Polizeiführer aus Deutschland fordern nun, daraus zu lernen. Ingeborg Legge, Leiterin der Kriminologischen Forschung im LKA Hamburg, hat sich im Mai das New Yorker Modell angeschaut. Sie ist weniger euphorisch.
taz: Sie waren in New York und haben sich das neue Polizeikonzept angesehen. Politiker und Polizisten hier bewundern die dortigen Kollegen wegen der zurückgegangenen Kriminalitätsrate.
Ingeborg Legge: Deutsche und New Yorker Kriminalitätsraten lassen sich nicht miteinander vergleichen. Bei uns führen mehr Kontrollen, etwa gegen Schwarzfahrer, Drogenhändler und Ladendiebe, zwangsläufig zu einem Anstieg der Kriminalitätsrate. Weil nur die, die erwischt wurden, statistisch gezählt werden. In New York werden diese Delikte aber nicht negativ als gestiegene Kriminalität, sondern als Festnahmeerfolge gewertet. Aus diesem Grund verbieten sich Vergleiche zu Deutschland. Es ist so, als würde man Äpfel mit Birnen vergleichen.
Legte man also deutsche Maßstäbe an die New Yorker Statistik an, dann verbuchte man gar keinen Rückgang der Kriminalität?
Richtig. Der Rückgang der Kriminalität um etwa fünfzig Prozent bezieht sich nur auf Mord. Raub und schwere Körperverletzung gingen um dreißig Prozent zurück. Durch die enorme Präsenz polizeilicher Einsatzkräfte sank sie aber lediglich von einem extrem hohen Niveau auf ein normales. Und dies auch nur deshalb, weil man bestimmte Verbrechenmilieus aus der Stadt verdrängt hat.
In New York sind die Abschnittsleiter vom Polizeichef zum Erfolg verdammt. Einerseits sollen sie mehr Delinquenten fangen, etwa Radfahrer, die auf Bürgersteigen fahren, andererseits aber soll die Zahl der registrierten schweren Delikte zurückgedrängt werden. Bleibt dieser Erfolg aus, drohen Kündigungen. Welche Konsequenzen hat dies für die polizeiliche Arbeit?
Sicher ermutigt der Erfolgsdruck zu eigenen Registrierungsstandards. Beispielsweise wird in New York eine Körperverletzung nur dann gezählt, wenn deren Folge zumindest gebrochene Gliedmaßen sind, ein blaues Auge reicht da nicht aus.
Aber die zurückgegangene Kriminalitätsrate spricht doch für dieses Konzept.
Es wird vergessen, daß die Rückgänge schwerer Delikte nur erreicht werden konnten, nachdem der Polizeiapparat vor vier Jahren umfassend neu organisiert wurde. Zuvor war kaum Polizei auf den Straßen, und das war eine außergewöhnlich desolate Sicherheitslage. Selbst für amerikanische Verhältnisse.
Was war der Grund dafür?
Die New Yorker Polizisten waren zu korrupt. Anstatt dies zu bekämpfen, stellten Polizeiführung und Bürgermeister alle im Drogenbereich arbeitenden uniformierten Polizisten unter einen kollektiven Korruptionsverdacht und haben sie aus der Drogenbekämpfung komplett herausgezogen. Nur Spezialeinheiten, die ausschließlich auf gemeldete Verbrechen und Notrufe reagierten, waren noch tätig.
Das erklärt aber noch nicht den Anstieg der Kleinkriminalität.
Dadurch, daß sich etwa in der Bronx überhaupt kein Polizist mehr auf Kontrollgang zeigte, stiegen nicht nur die Drogen-, Beschaffungs- und Gewaltkriminalität an, sondern auch Verschmutzung, Lärm- und andere Belästigungen. Das Ergebnis waren die uns bekannten no go areas mit interethnischen Auseinandersetzungen und häufigen Schießereien auf den Straßen.
Heißt das, daß die Polizei selbst für den damaligen Anstieg der Kriminalität veranwortlich zu machen ist?
Der Kriminalitätsanstieg hat nicht nur sozialstrukturelle Ursachen, sondern wurde eben durch auffallend schlechte Polizeiarbeit mitverschuldet. Nach der Polizeireform 1993 traten die New Yorker Polizisten wieder massiv in der Öffentlichkeit auf. Gleichzeitig wurde ein autoritäres Management eingesetzt.
Nur aufgrund dieser Vorgeschichte konnte das „Experiment New York“ jetzt gelingen. Stellen Sie sich vor, die Polizei bei uns zöge sich aus allen städtischen Drogenbrennpunkten für länger vollkommen zurück. Die Probleme würden in den betroffenen Stadtteilen sehr schnell wachsen. Setzte man dann die Polizei wieder offensiv ein, hätten auch wir vergleichbare Erfolge zu vermelden.
Wie bewerten eigentlich US- amerikanische Kriminologen das New Yorker Konzept?
So unwahrscheinlich es klingt, es gibt keine Begleitforschung. Amerikanische Polizeiforscher konnten bislang weder das Konzept analysieren, noch haben sie die Statistiken einsehen können.
Was sind die gesellschaftlichen und politischen Kosten des New Yorker Konzepts?
Zero Tolerance meint tatsächlich keine Toleranz gegenüber niemandem. Nicht nur gegenüber Dealern, sondern auch zum Beispiel gegenüber denjenigen, die auf der Straße pinkeln.
Alle müssen mit Personenkontrollen und Durchsuchung nach Waffen und Drogen rechnen, die einen der innerstädtischen Checkpoints passieren. Solche polizeistaatlichen Methoden würden bei uns auf Befremden stoßen. Dieses Zero Tolerance gilt übrigens auch für das Führungsverhalten der Polizei.
Der Umgangsstil ist rüde und autoritär, zuweilen auch militant. Solche Umgangsformen werden immer häufiger von der Polizei an die Bürger weitergegeben.
Aber die New Yorker scheinen dies als Preis für mehr Sicherheit zu akzeptieren.
Das hohe Risiko, Opfer von Straßenkriminalität zu werden, führte anfangs zu einer hohen Toleranz gegenüber den rigiden Methoden. Jetzt, wo das Sicherheitsniveau vergleichbarer amerikanischer Staaten erreicht ist, sinkt die Toleranz der Bevölkerung gegenüber der Null-Toleranz. Beschwerden nehmen zu. Die Polizei wird ihre Methoden überdenken müssen, wenn sie Akzeptanzverluste vermeiden will.
Was kann eine deutsche Großstadt von New York lernen?
Alles, was den Glanz des New Yorker Konzepts ausmacht, wäre in fast allen wesentlichen Aspekten ein enormer Rückschritt. Soviel Kriminalität, wie New York selbst in den mit aller Macht reduzierten Bereichen noch immer hat, kann niemand ernsthaft zum Vorbild nehmen wollen.
Wie könnte denn die deutsche Polizeiarbeit optimiert werden?
Bemühungen einer Optimierung polizeilicher Arbeit knüpfen bei uns eher an die Vorgehensweisen in anderen amerikanischen Großstädten an, in denen die Kriminalitätszahlen auch ohne das New Yorker Konzept zurückgegangen sind.
Das dort und inzwischen auch in einigen deutschen Städten angewendete Konzept der gemeindenahen Polizeiarbeit setzt statt auf kurzfristige Effekthascherei durch extreme Repression auf gesellschaftliche Kooperation, Vernetzung und gemeinsame Verantwortung bei der Reduzierung von chaotischen Verhältnissen und Kriminalität.
Sind deutsche Polizisten auf diesen Arbeitsansatz vorbereitet?
Aufgrund ihrer Ausbildungszeit von zweieinhalb Jahren sind deutsche Polizisten eher zu Kooperation in der Lage als ihre Kollegen in New York. Dort liegt der Schwerpunkt während der sechsmonatigen Ausbildung auf Fitneß, Disziplin, Befehl und Gehorsam.
Im übrigen wäre selbst der begrenzte Erfolg der New Yorker Polizei in einigen ausgewählten Bereichen nicht denkbar ohne massive Unterstützung durch soziale Maßnahmenpakete anderer Behörden. Interview:
Eberhard Seidel-Pielen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen