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Ein Nachruf Von Ralf Sotscheck

Daß er sich gerne einen hinter die Binde kippte, wußte ich schon als Kind. Volltrunken habe ich meinen Vater aber selten gesehen. Manchmal kam morgens ein Telegramm – wir hatten damals noch kein Telefon. Ihm gehe es gut, hieß es darin, er sei vom Wirtshaus direkt zur Arbeit gegangen. Meine Mutter befürchtete dann immer, daß der Postbote das Telegramm heimlich gelesen hatte und den Inhalt in der Nachbarschaft verbreitete.

Einmal, ich war damals 13, kam er von der Grünen Woche, der „Fressa“ unter dem Berliner Funkturm, in hohem Grade fröhlich nach Hause. Meine Mutter und ich hörten das klackende Geräusch, das ein Schlüssel macht, wenn der Besitzer das Schlüsselloch nicht findet. Schließlich hatten wir Erbarmen und öffneten die Tür. Er hatte mir etwas mitgebracht: eine nasse Tafel Schokolade, die erbärmlich nach Fisch stank. Eine neue Geschmacksrichtung, die Sarotti ausgeheckt hatte? Nein: Aus derselben Manteltasche holte er mühevoll eine Handvoll Glasscherben und mehrere Rollmöpse, die er meiner Mutter schenken wollte. Unterwegs war er wohl hingefallen, und bei dem Sturz vermengten sich Rollfisch, Mopswasser, Glas und Schokolade. Ins Bett wollte mein Vater auf keinen Fall, denn Muhammad Ali boxte in dieser Nacht, und der Kampf wurde live um vier Uhr morgens übertragen. Wie ein Stehaufmännchen kam er jedesmal wieder hoch, nachdem wir ihn ins Bett geschickt hatten, wobei er uns bezichtigte, völlig betrunken zu sein. Bis zum Boxkampf waren es aber noch neun Stunden, und so mußte Muhammad Ali dann doch auf seinen Berliner Fersehzuschauer verzichten. Der schlief seinen Rausch aus.

Am nächsten Tag in der Schule fragte mich mein Geschichtslehrer scheinheilig, ob mein Vater am Vortag auf der Grünen Woche gewesen sei. Er kannte ihn, denn mein Vater war zu meinem Leidwesen Elternvertreter und über meine schulischen Untaten stets bestens informiert. Der Geschichtslehrer hatte ihn in der Bayernhalle entdeckt, wo er sich zwischen einem Bierstand und dem gegenüberliegenden Obstlerstand wie ein Perpetuum mobile hin- und her bewegte. Auf einem seiner Seitenwechsel rannte er eine alte Dame über den Haufen, die fluchend zu Boden ging, doch er mußte weiter zum Obstler. Die alte Frau gehörte zu jener Spezies, die alles mitnehmen, was es kostenlos gibt, und sie hatte ihre Beute in 32 Plastiktüten verstaut, die nun weit verstreut um sie herum lagen. Als sie sich aufgerappelt und die Tüten wieder eingesammelt hatte, war mein Vater auf dem Rückweg vom Obstlerstand und schickte die Betagte erneut zu Boden. Diesmal bedachte sie ihn mit einer Serie von Verwünschungen. Ich bekam seitdem immer eine Fünf in Geschichte, glaube aber nicht, daß ich es auf die Begegnung zwischen Lehrer und Elternvertreter auf der Grünen Woche schieben kann.

Voriges Jahr haben die Ärzte bei meinem Vater eine Leberzirrhose diagnostiziert, und seitdem war es mit Alkohol vorbei. An das Clausthaler, das er als „atomfreies Erfrischungsgetränk“ abtat, gewöhnte er sich nur langsam. Genützt hat es ihm nichts. Am Freitag ist er gestorben.

Mach's gut, mein Alter. Hoffentlich stehen Atombier und bayerischer Obstler an der ewigen Theke für dich bereit.

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